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9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.05.2024 - Europa

Am 23. Mai feiert die Bundesrepublik ihr 75-jähriges Bestehen, die Zeitungen bringen schon heute zahlreiche Politologen-Interviews, die SZ widmet den Feierlichkeiten eine ganze Ausgabe.

Seit der Wiedervereinigung existiert das beste Deutschland, das wir je hatten, meint etwa Timothy Garton Ash im FR-Gespräch, in dem er eine "Gesamteuropapolitik" fordert, insbesondere mit Blick auf eine mögliche Wiederwahl Trumps: "Ich hätte die Hoffnung, dass wir uns zusammenschließen, die Europäer einschließlich der Briten. Wir machen das, was wir schon lange hätten tun sollen, nämlich eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik und auch -Außenpolitik. Meine Befürchtungen wären: Es passiert genau das Gegenteil. Das ist ein wichtiger Punkt, es wird eine Trump-Partei in Europa geben. Hauptfiguren: Viktor Orbán, wahrscheinlich Georgia Meloni. Zweitens wird von Frankreich aus eine gaullistische Position verlangt. 'L'Europe puissance', Europa als Machtzentrum, als eigenständige Alternative zu den Vereinigten Staaten. Viele der osteuropäischen Staaten werden immer noch versuchen, in einem Sonderverhältnis mit den Vereinigten Staaten zu bleiben, weil sie nicht glauben, dass Europa als solches Lettland oder Litauen oder sogar Polen verteidigt. Dann gibt es die vierte Partei mit Deutschland an erster Stelle, die versucht, alle die verschiedenen Richtungen irgendwie zusammenzuhalten."

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk beklagt derweil in der taz, das wiedervereinigte Deutschland habe nach der Wende die Chance auf eine gemeinsame Verfassung vertan: "Der im Grundgesetz immer noch bestehende Art. 146 - Verabschiedung einer neuen Verfassung über die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung - fand keine Mehrheit, weder vor noch nach dem 3. Oktober 1990. Eine neue Verfassung hätte die deutsche Einheit auf eine politisch-kulturell-mental andere Ebene, auf ein Dokument der Gemeinsamkeit erheben können. Auch heute könnte das Inkraftsetzen von Art 146 GG etwas bewirken - nämlich Demokrat*innen in der Gesellschaft das Selbstbewusstsein zurückgeben, dass sie in einer großen Mehrheit sind und nicht die linken und rechten Extremisten, die das dauernd für sich reklamieren. Dafür allerdings bedarf es Mut und die Einsicht, dass Verfassungen nicht allein Angelegenheit von Jurist*innen sind, sondern der ganzen Gesellschaft gehören."

"Wir stehen vor Herausforderungen in einer Größenordnung, wie wir sie in den 75 Jahren des Grundgesetzes nicht gesehen haben", sagt die Verfassungsrichterin Christine Langenfeld im SZ-Gespräch mit Blick auf das Erstarken der extremen Ränder. Gegenüber einem AfD-Verbot äußert sie sich skeptisch, die Gesellschaft selbst müsse für die Demokratie und den Rechtsstaat eintreten, meint sie: "Es wird meines Erachtens zu viel geschwiegen. Nach dem Potsdamer Treffen von Rechtsextremisten gab es allerdings öffentliche Kundgebungen, Zehntausende Menschen sind auf die Straße gegangen, das ist wirklich eine sehr ermutigende Sache. Ich würde mir sehr wünschen, dass dieser Einsatz für den demokratischen Rechtsstaat weitergeht. (…) Die Weimarer Verfassung ist daran gescheitert, dass es an Demokraten gemangelt hat. Eine Verfassung lebt davon, dass Demokraten sie tragen. Ich hoffe, dass wir ein Revival des Engagements in den demokratischen Parteien erleben. Bei den anstehenden Kommunalwahlen konnten viele Listenplätze nicht besetzt werden. Das macht mir Sorge."

Ebenfalls in der SZ blickt Hilmar Klute mitunter wehmütig zurück auf die Zeit der intellektuellen Deutungskämpfe, an deren Stelle heute "der maßlose Hass aus den digitalen Zornlaboratorien" getreten ist: "Statt der Ordnung der Diskurse ist der Lärm des Getümmels das Merkmal unserer Jahre. Mag auch sein, dass die Zeit der großen theoretischen Bögen vorläufig vorbei ist und es im Augenblick darauf ankommt, die Krisen zu ordnen und die Gefahren für Demokratie und Freiheit zu benennen. Sagen wir ruhig: Es ist die Stunde der Soziologen, die, wie Steffen Mau und Hartmut Rosa, kühl und empirisch ausloten, in welcher Verfasstheit die deutsche Gesellschaft im Jahr 2024 ist. Für große Denkentwürfe, von Utopien gar nicht zu reden, sind die weltpolitischen Perspektiven vielleicht gerade zu eng."

In der NZZ fordert der russische Kulturwissenschaftler Alexander Etkind nicht nur weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern auch strengere Sanktionen gegen Russland, insbesondere um die russischen Öl- und Gasexporte einzudämmen: "Das russische Öl belastet über die Maßen das Weltklima, finanziert heiße und hybride Kriege, korrumpiert weltweit Gesellschaften und zerstört die internationale politische Ordnung. Die russische Niederlage ist daher untrennbar mit der globalen Dekarbonisierung verbunden. Jeder zusätzlich vom Westen gelieferte Panzer, jede Drohne und jede Granate befördert die notwendige russische Niederlage. Die Kriegswende könnte auch eine ökologische Wende darstellen. Russland ohne Öl und Gas wäre ein armes, sehr armes Land. Es wäre nicht einmal in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren. Das riesige Gebiet Nordeurasiens, vom Weißen bis zum Schwarzen Meer und von der ukrainischen bis zur japanischen Grenze, könnte ob der herrschenden Not seine politische Einheit verlieren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Reihe neuer unabhängiger Staaten entstehen würde. Grenzkonflikte könnten sich zu einem Bürgerkrieg ausweiten."

Mit dem geplanten Gesetz zur "Transparenz des ausländischen Einflusses" steht die Zukunft der Demokratie und die europäische Zukunft Georgiens auf dem Spiel, warnt der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili, der in der taz skizziert, wie der Oligarch Bidsina Iwanischwili die Kulturinstitutionen auf regimetreue Linie brachte: "Das, was in der Kulturszene des Landes passiert, zeigt im Kleinen das Bild des ganzen Landes. Die Kulturinstitutionen haben gezeigt, wie ein freies, demokratisches Georgien hätte aussehen können: Professionalität, fairer Wettbewerb und offene Diskussionen haben zum Aufbruch und zu Erfolgen in der Kultur geführt. Im Gegensatz dazu dienen die nun politisch kontrollierten Kulturinstitutionen nur als Propagandainstrumente des Regimes und verkommen zu Entlohnungseinrichtungen für Regimetreue, die jedoch künstlerisch wenig zu bieten haben. Aber auch aus anderen Bereichen wird Talent und Professionalität verbannt und mit der Regimetreue ersetzt. Die Ausschaltung der Zivilgesellschaft, der Freiheit des Ausdrucks und der Kunst braucht Iwanischwili, um sein bizarres Weltbild kritiklos gelten zu lassen. Vor seinen Anhängern sprach der Oligarch von der 'globalen Kriegspartei' - so bezeichnet er den Westen -, die mit Hilfe der georgischen Zivilgesellschaft eine Revolution in Georgien anzetteln wolle, um dem Land seine Souveränität zu nehmen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2024 - Europa

Lennart Laberenz besucht für die FAZ das schwer unter Feuer stehende Charkiw und lernt dabei auch zwei befreundete Studenten kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: "Vadim hat mit der Ukraine abgeschlossen, sagt er, seine Eltern seien damit überhaupt nicht einverstanden. Er bezweifelt, dass der Krieg gewonnen werden kann. 'Ich werde über die Grenze gehen, illegal.' Erst in dieser Woche ertranken vier Ukrainer in der Theiß, dem Grenzfluss zu Rumänien. Serhij hört geduldig zu, er kennt die Geschichte seines Freundes, sieht die Dinge aber anders, hat gerade begonnen, IT-Management zu studieren. Wenn man ihn fragt, ob er fürchtet, vom Militär eingezogen zu werden, antwortet er schnell und überzeugt: 'Darauf bereite ich mich vor.' Er trainiert mit Gewichten, besucht Seminare in Elektrotechnik. Serhij will zu einer Drohnen-Einheit: 'Ich will helfen, die Stadt zu verteidigen', sagt er. Serhij ist neunzehn Jahre alt. Vadim schweigt, dann stoßen sie mit Ihren Bierflaschen an."
Stichwörter: Ukraine-Krieg

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.05.2024 - Europa

Florenz könnte ab dem 9. Juni einen deutschen Bürgermeister haben: Eike Schmidt, von 2015 bis 2023 Leiter der Uffizien, kandidiert als Kandidat der Fratelli d'Italia und Lega Nord, schreibt Ulrich Ladurner in der Zeit. Rechtsradikal möchte er aber nicht sein. "'Die Fratelli d'Italia sind keine rechtsradikale Partei!'" Trotzdem, so Ladurner, biete er rechtsradikalen Kandidaten eine Bühne: "Nachdem die Fotos geschossen sind, sagt einer der drei Kandidaten: 'Jetzt greifen sie uns an, weil wir schon wieder mit den Deutschen zusammenarbeiten.' (...) Das 'schon wieder mit den Deutschen' mag man für den geschmacklosen Scherz eines unbedeutenden Kandidaten der Fratelli d'Italia halten. Doch geht es in dieser Geschichte eben auch um die Gesellschaft, in die sich ein international renommierter deutscher Museumsmanager begeben hat, um Bürgermeister von Florenz zu werden. Dieser Mann, der so einen fragwürdigen Witz reißt, gehört dazu (...) - und vermutlich eine ganze Reihe anderer Figuren, die aus dem dunklen Unterholz dieser Parteien auftauchen. Die Strahlkraft des Kandidaten nutzen sie als Legitimationsquelle: Wenn einer wie er für uns kandidiert, dann können wir so böse nicht sein!"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.05.2024 - Europa

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Wir müssen den "historischen Ballast" von Europa abwerfen, fordert im ZeitOnline-Gespräch der Philosoph Dag Nikolaus Hasse, der in seinem 2021 erschienenen Essay "Was ist europäisch?" über die "Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen" nachdenkt und nicht nur den Begriff vom "christlich-jüdischen Abendland" kritisiert: Dieser werde mit dem Ziel gebraucht, das muslimische Europa auszublenden. Auch einen kulturellen Europa-Begriff lehnt er ab, da sich in dessen Folge eine bis heute präsente "Denkform der Überlegenheit" entwickelt habe: "Zum Beispiel, wenn wir Menschen, die hierherkommen, nahelegen, sie sollten die Aufklärung nachholen. Dabei sollten wir uns erst einmal erkundigen, welche Formen der Aufklärung und Rationalität diese Zuwanderer aus ihren eigenen Herkunftsländern kennen. Ich meine also nicht die Auseinandersetzung mit kolonialer Ausbeutung, so wichtig diese auch ist. Mir geht es um die Kritik an Traditionen europäischer Arroganz und Selbstüberhebung, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen." Auch den Begriff der "westlichen Werte" will er streichen, da wir so Regimes in China, Russland oder dem Iran in die Hände spielen würden. Die EU müsse stattdessen für "universelle Werte" eintreten, die Zukunft Europas sieht er in Vielvölkerstädten, in denen verschiedene Gruppen friedlich nebeneinander leben, während der Staat geltendes Recht im Einzelfall, aber nicht "pauschal" durchsetzt.

Die russischen Angriffe auf Charkiw werden immer brutaler, anders als in den Jahren 2022 und 2023 warfen die Russen selbst an Ostern Bomben auf Charkiw, schreibt der vor Ort lebende Schriftsteller Sergei Gerasimow in der NZZ. Viele alte Menschen empfinden den Krieg schlimmer als den Zweiten Weltkrieg, erfährt er. "Es kursieren drei Haupttheorien, warum die Russen dies alles tun. Die erste besagt, dass es sich um eine Rache für unsere Angriffe auf russische Ölraffinerien und den Beschuss von Belgorod handle. Die zweite, dass sie einfach ein pragmatisches, durch ihr allgemeines Konzept der Kriegsführung diktiertes Verhalten an den Tag legten, zu dem grundlegend Terror und Völkermord gehörten. So sieht die moderne Kriegsführung der Russen aus, und so haben sie immer schon gekämpft, in Afghanistan, Georgien und Syrien. Es wäre seltsam, wenn sie jetzt anders vorgehen würden. Gemäß der dritten Theorie handelt es sich um die Vorbereitung einer neuen Offensive auf Charkiw, und diese besteht darin, die gesamte Energie- und die zivile und militärische Infrastruktur sowie alle Industriebetriebe zu zerstören und die Einwohner zu zwingen, die Stadt zu verlassen."

Auf ZeitOnline erinnert Alan Posener daran, dass Gewalt gegen Politiker für AfD-Mitglieder nichts Neues ist, auch wenn man darüber nicht gern spricht: "Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD (PDF) geht hervor, dass die Partei bis einschließlich 2022 mit Abstand am häufigsten Opfer politischer Straftaten wurde, von Beleidigungen und Bedrohungen über Sachbeschädigungen - inklusive Brand- und Sprengstoffanschlägen - bis hin zu tätlichen Angriffen. Da sprach aber niemand von 'Verrohung der Gesellschaft'."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.05.2024 - Europa

Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollack liest für die taz Umfragen und beobachtet ein zwiespältiges Verhältnis der Deutschen zum Islam - aber auch der Muslime zu ihrer eigenen Religion und ihrer Rolle in Deutschland. Die Deutschen sehen den Islam einerseits sehr kritisch, aber "so schlecht das Image des Islam in der deutschen Bevölkerung ist, die meisten hierzulande wollen, dass Muslime fair behandelt werden. Sie fühlen sich durch den Islam zwar bedroht, aber wollen ihm wie allen Religionen mit Offenheit und Verständnis begegnen." Die Muslime vertreten zu einem besorgniserregend hohen Teil fundamentalistische Einstellungen, bestätigen also deutsche Vorbehalte, so Pollack. Zugleich "lassen sich unter den Musliminnen und Muslimen viele Haltungen ausmachen, die einem rigiden Fundamentalismus widersprechen. Demokratische und rechtsstaatliche Werte sind weithin akzeptiert. So fällt die Bejahung der Demokratie als Staatsform unter ihnen genauso hoch aus wie in der deutschen Gesamtbevölkerung."

Nach russischem Vorbild soll in Georgien ein "Agentengesetz" in Kraft treten, das Nichtregierungsorganisationen ins Exil zwingen und eine Mitgliedschaft in der EU ausschließen würde, berichtet Can Merey in der FR. Deshalb demonstrieren Zehntausende gegen dieses Gesetz und gegen den russischen Einfluss: "Tatsächlich ist in Umfragen regelmäßig eine überwältigende Mehrheit der Menschen in Georgien für einen EU-Beitritt (und in etwas geringerem Maße für eine Nato-Mitgliedschaft)." Die prorussische Einstellung von Ministerpräsident Iwanischwili vor den anstehenden Neuwahlen für das Parlament "scheint da eigentlich keine erfolgversprechende Strategie zu sein. Er selbst argumentierte Ende vergangenen Monats, durch den Konflikt über das Gesetz zwinge man die Opposition, ihre Energie schon vor den Wahlen auf der Straße zu 'verschwenden'. In einer beängstigenden Rede drohte er der Opposition eine schonungslose Abrechnung nach der Wahl an."

Der (seit heute) 90-jährige Schriftsteller Adolf Muschg fordert im NZZ-Interview mit Roman Bucheli einen sofortigen Stopp des Ukraine-Kriegs. "Dass jetzt Menschen aus dem fernsten Sibirien sterben müssen für das heilige Russland, das ist unappetitlich, aber mit Verlaub, es ist genauso unappetitlich, wenn man den Ukrainern unterstellt, sie müssten siegen. Es gibt keinen Sieg dort. Es sterben einfach jeden Tag mehr Leute." An alten Ideen des Pazifismus hält er dementsprechend fest: "Natürlich müssen wir viele Illusionen über uns als Homo sapiens aufgeben. Aber eine kriegerische Welt ist unter gar keinen Umständen eine akzeptable Alternative. Was man suchen muss, sowohl im Nahen Osten wie auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion, ist eine verhandelbare Welt. Ein Staatsmann oder eine Staatsfrau wäre für mich jemand, der oder die den Weg dazu findet." Wer das in dieser Situation sein soll, lässt er unbeantwortet.

Der Ukraine-Krieg ist quasi zum Erliegen gekommen, der Kreml prahlt zwar, nochmal 500.000 Soldaten mobilisieren zu können, der Außenminister Sergei Lawrow deutet im Interview mit Kreml-nahen Medien aber eine andere Lösung an, konstatiert der australische Schriftsteller Howard Hunt in der FAZ. So soll die Ukraine in zwei Teile gespalten werden. "Angesichts der Munitionsknappheit der Ukrainer und einer möglichen Wiederwahl von Donald Trump legen sich Putins Trollfabriken inzwischen mächtig ins Zeug und verbreiten eine mehrsprachige Fantasielandkarte der Ukraine, die von einem vergrößerten Dnipro säuberlich in zwei Hälften geteilt wird. Links des Flusses eine kleinere (aber noch immer ziemlich große) Westukraine mit ein paar Ortschaften am Schwarzen Meer, rechts davon eine mächtige russische Ukraine, der ihr heiliges Territorium zurückgegeben wurde. Wäre der Westen bereit, sich darauf einzulassen?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2024 - Europa

Dänemark.


Niederlande.


Eine griechische Schlagersängerin beim European Song Contest, während ihre israelische Kollegin Eden Golan von der Presse befragt wird:


Frankfurt. Patrick Bahners, Redakteur einer renommierten Zeitung, erklärt die Parole "From the River to the Sea".


Große Empörung herrscht auf Twitter über eine Seite der Bild-Zeitung, die einige der tausend Professoren des Berliner Dozentenaufrufs (unser Resümee) namhaft macht.


Bei einem Vortrag von Professor Alfred  Bodenheimer zum Thema Antisemitismus an der Uni Hamburg kam es zu einem gewalttätigen Vorfall, berichtet Michael Thaidigsmann in der Jüdischen Allgemeinen: "Einem Vorstandsmitglied des Hamburger Landesverbands der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) wurde nach einer verbalen Auseinandersetzung ins Gesicht geschlagen. Die 56-jährige Frau war zunächst übel beschimpft worden. Anschließend wurde sie gewürgt und durch einen Faustschlag an der Nase verletzt." Die Frau, die sich übrigens tatkräftig wehrte, musste in der Notaufnahme eines Krankenhauses versorgt werden.

Die Besetzung des FU-Campus war nicht so friedlich, wie es die inzwischen 339 Dozenten plus 726 externen Unterstützer behaupten, schreibt Philipp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen, mit Parolen wie "From the River ..." oder "Yallah Yallah Intifada" wurde zur Gewalt aufgerufen. Engel wendet sich direkt an die Unterzeichner: "Würden sie sich auch hinter die Studenten-Proteste stellen, wenn es nicht linksextreme, sondern rechtsextreme Studierende wären, die die Auslöschung Israels fordern und zu Gewalt gegen Juden aufrufen? Gewiss nicht. Zu Recht. Warum tun sie es dann hier? Muss man es Akademikern wirklich erklären? Es darf keinen Kulturrabatt bei Judenhass geben."

Das erste Camp auf dem Campus einer Uni in Deutschland gab es in Köln, berichtet Tom Konjer in der FAZ: "Mittlerweile stehen die Zelte schon fast eine Woche lang. Darauf, dass es das erste propalästinensische Studenten-Camp in Deutschland ist, sind die Demonstrierenden hier stolz. Damit habe man etwas angestoßen und Studenten im ganzen Land inspiriert, mitzuziehen. Doch ist fraglich, ob das Camp von Studenten organisiert wird, nicht viele im Camp bezeichnen sich als solche."

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Die taz kommt auf einen gewalttätigen Angriff gegen einen Dresdner SPD-Politiker zurück, der beim Aufstellen von Wahlplakaten zusammengeschlagen wurde. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach von einer "neuen Dimension antidemokratischer Gewalt", aber das ist eine Beschönigung, findet der Extremismusexperte David Begrich im Gespräch mit Konrad Litschko von der taz. Besonders in den Neuen Ländern habe man viel zu lange weggesehen: "Natürlich erleben wir nicht jeden Tag solch schwere Gewalttaten. Aber ich will daran erinnern, dass wir schon seit Jahren etwa körperliche Angriffe auf Journalisten und Journalistinnen erleben, die in Sachsen über die rechten Montagsdemonstrationen berichten. Oder denken Sie zurück an die Wahlkämpfe Ende der Neunziger Jahre in Ostdeutschland, da gab es ähnliche Situationen, als Neonazis aus dem NPD-Umfeld gewalttätig wurden. Der Angriff auf Matthias Ecke ist daher Teil einer langen Kontinuität, nicht eine Ausnahme."

In der FAS wird die Brandenburger FDP-Politikerin Linda Teuteberg zu den tätlichen Angriffen gegen Politiker interviewt. Die meisten Opfer gewaltsamer körperlicher Angriffe seien allerdings AfD-Politiker gewesen, sagt Interviewer Jochen Buchsteiner und fragt, ob hier mit zweierlei Maß gemessen werde: "Das darf jedenfalls nicht geschehen. Es gibt keine ethische Überlegenheit irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extremismus und niemals eine Rechtfertigung für Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Regeln des demokratischen Rechtsstaates müssen ohne Ansehen der Person und des politischen Lagers angewendet werden." In dem Gespräch äußert sich Teuteberg auch noch mal zum "Demokratiefördergesetz" (unsere Resümees). Es sei "ein Widerspruch in sich, Nichtregierungsorganisationen strukturell und dauerhaft von der Regierung finanzieren zu lassen".

Überaus trist liest sich Sascha Zastirals Bilanz nach dem Brexit einige Jahre danach. Aus den hochfliegenden Versprechungen ist nicht viel geworden, neue Freihandelsverträge gibt es kaum, die Wirtschaft ist geschrumpft, das Land deprimiert, erzählt er in der taz. "Von den wirtschaftlichen Folgen des Brexits sind heute tragischerweise viele der wirtschaftlich abgehängten Regionen besonders stark betroffen, in denen es beim EU-Referendum 2016 eine Mehrheit für den EU-Austritt gab. Dass die Menschen dort für den Brexit gestimmt haben, hatte oft weniger mit einer Sehnsucht nach einem Status als Weltmacht zu tun als mit dem Willen, gehört zu werden."

Eine der schärfsten Waffen Alexej Nawalnys waren die großen Dokumentationen über russische Korruption, die er bei Youtube einstellte (es lebe dieses böse Internet). Seine ehemalige Mitarbeiterin Marija Pewtschich hat nun bei Youtube eine Reihe von drei einstündigen Filmen eingestellt, die auf die neunziger Jahre zurückkommt, die Putin möglich machten, berichten Friedrich Schmidt und Reinhard Veser in der FAS. Sie schidert, "wie Jelzin, der Ende der Achtzigerjahre als Volkstribun und Kämpfer gegen die Privilegien kommunistischer Funktionäre populär geworden war, sich schon zu Beginn seiner Regierungszeit auf Staatskosten selbst eine Wohnung angeeignet und andere Luxuswohnungen freihändig an Familie, politische Mitstreiter und Freunde verteilt hat. Wie der Geschäftsmann und Strippenzieher Boris Beresowskij mit fiktiven Verträgen den damals größten staatlichen Fernsehsender unter seine Kontrolle brachte. Und vor allem, wie eine Gruppe von Oligarchen Mitte der Neunzigerjahre vom russischen Staat im Gegenzug für ein gigantisches Geschäft 1996 die Wiederwahl Jelzins sicherstellte." Die Videos sind hier mit englischen Untertiteln zu sehen.

Die Öffentlichkeit hat kaum noch Kapazität, die anhaltenden schicksalhaften Demonstrationen in Georgien wahrzunehmen. Sie richten sich gegen ein Gesetz, das Gegner der Regierung zu "ausländischen Agenten" erklären soll, ganz so, wie die Repression in Russland zugeschnappt hat. Dieses Gesetz diene "ganz bewusst der Provokation des Westens", schreibt Tobias Münchmeyer in der FAS. Die Regierung wolle den europäischen Traum der georgischen Bevölkerung schleifen: "Die europäischen Politiker - von der Leyen, Macron, Michel und Scholz -, sie äußern sich kritisch und drohen für den Fall des Gesetzesbeschlusses mit Aufhebung der Visumfreiheit oder sogar dem Entzug des EU-Kandidatenstatus. Das ist richtig - und doch auch ein Dilemma, denn: Diese Drohungen laufen ins Leere, da die Regierung ja nicht wirklich Mitglied in der Europäischen Union werden will. Immer wieder tappen europäische Diplomaten in diese Falle, anstatt mit gezielten Sanktionen Druck auszuüben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.05.2024 - Europa

Gegen Omri Boehm wurde im Vorfeld der Wiener Festwochen unter anderem von jüdischer Seite protestiert, da Boehms Eröffnungsrede, wie bei den Wiener Festwochen üblich, auf dem Wiener Judenplatz stattfinden sollte. Weil Boehm in seinem Buch "Israel - eine Utopie" eine Zweistaatenlösung ablehnt, wurde ihm etwa von Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) Antisemitismus vorgeworfen. Die "Rede an Europa" konnte Boehm schließlich, unterbrochen von Zwischenrufen, halten, atmet Mladen Gladic in der Welt auf: "Die EU sei, hier zitierte Boehm den ersten Eröffnungsredner der Festwochen 2019, den Osteuropahistoriker Timothy Snyder, eine gute Antwort auf den Zerfall der Imperien, die Exzesse von Nationalstaaten, den Holocaust und auch den Kolonialismus gewesen - schlechte Antworten wären, meinte Boehm mit Snyder, mehr Nationalstaatlichkeit oder Imperien. Aber was sich nach innen als Lösung darstellte, habe bezüglich der Opfer der europäischen Geschichte zu etwas geführt, was man wohl als Fetischisierung nationalstaatlicher Souveränität bezeichnen kann. Als Boehm hier auch Israel anführt und Applaus aufkommt, wechselt er ins Deutsche: 'Passt auf!', warnt er und erläutert, jetzt wieder auf Englisch, für einen souveränen jüdischen Staat habe es in der konkreten historischen Situation sehr gute Gründe gegeben. Grundsätzlich gebe es aber den Trend in Europa, außerhalb seiner Grenzen nicht die Würde des Menschen, sondern die Souveränität von Staaten für unantastbar zu halten."

Auf deutsch zu lesen ist die Rede im Standard. Hier kann man sich die Rede anhören:



Die Inflation in der Türkei ist so hoch, dass sie selbst für Ausländer mit starken Währungen spürbar ist - die Türkei gehört heute nicht mehr zu den günstigen Urlaubszielen, berichtet Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. In der Türkei tröstet man sich inzwischen mit einem neuen Lehrplan für die Schulen: "Die Inhalte der naturwissenschaftlichen Fächer sollen in Übereinstimmung mit dem Religionsunterricht gebracht werden; im Lehrplan fehlen sowohl Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, wie auch das Laizismus-Konzept. Integralrechnung wurde gestrichen, aber der Begriff Dschihad aufgenommen."

In der NZZ berichtet die russische Schriftstellerin Irina Rastorgujewa nicht nur von der Siegesparade zum 9. Mai in Russland, sondern erzählt auch entsetzt, wie Kleinkinder zunehmend indoktriniert werden: "In Kindergärten und Schulen tragen die Kleinsten Gedichte darüber vor, wie sie aufwachsen und den 'faschistischen Abschaum' besiegen werden, zeigen Schlachtszenen, Miniaturen, stellen die Gräber von Soldaten dar - die Eltern sind gerührt, begeistert, ihre Kinder wachsen zu Patrioten heran, und bald können sie der Armee übergeben und erfolgreich zum aktuellen Wechselkurs gegen ein neues Auto oder Brennholz eingetauscht werden. Je nachdem, wie hoch der Lohn für einen Freiwilligen ist."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2024 - Europa

Fassungslos berichtet Inna Hartwich in der taz von Putins Einführung in seine fünfte Amtszeit: "In seiner achtminütigen Rede spricht er von 'traditionellen Werten', 'Volkserhaltung' und der 'Einzigartigkeit Russlands'. 'Auf den ersten Platz müssen wir immer unsere Heimat stellen', sagt er. Der Kreml vereinnahmt mittlerweile jeden Einzelnen für den Erhalt seines Status quo. Putin stellt an die Menschen neue Ansprüche, fordert nicht mehr nur die schweigende Zustimmung, sondern macht sie zu Komplizen seines Regimes: Sie sollen für die von den Machthabern ausgemachten Helden jubeln, sollen an den russischen Sieg glauben. 'Alle zusammen werden wir siegen', ist seine Losung. Zur 'neuen Elite' im Land sollen die werden, die sich an der Front und in den Militärfabriken fürs Vaterland aufopfern, das ist Putins Ziel. Dafür lässt er sich vom höchsten Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche segnen. 'Hoheit' nennt ihn Patriarch Kirill in der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml. Wie die früheren Zaren."
Stichwörter: Putin, Wladimir, Russland

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2024 - Europa

Die AfD hegt große Sympathien für die Autokratien in China und Russland, "zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Die AfD ist in ihrer Käuflichkeit den etablierten Parteien verwandt, sie agiert nur dreister, dümmer und draufgängerischer. In ihrer romantischen Verklärung von Russland und China stehen ihr Sahra Wagenknecht, SPD und CDU in nichts nach", meint in der taz der Satiriker Florian Schroeder. "Sahra Wagenknecht hat gerade erst bei The Pioneer zu Protokoll gegeben, Putin sei zwar ein autoritärer Herrscher, habe aber die Russen aus einer Demütigung herausgeführt. Unglücklich, dass dafür zehntausend ukrainische Zivilisten und Hunderttausende Soldaten mit dem Leben bezahlen mussten." Aber auch Manuela Schwesig von der SPD, Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) und Maximilian Krah (AfD) bekommen von Schroeder ihr Fett weg, der am Ende warnt: "Diese romantische Vergaffung Russlands und Chinas, der viele Linke, Linksliberale und vereinzelte Konservative den Boden bereitet haben, hat nur ein Ziel: den amerikanischen Liberalismus als Quelle allen Übels anzugreifen, weil Freiheit offenbar noch gefährlicher erscheint als brutale Autokratien."

In der Zerstörung von Charkiw und der geplanten Einrichtung "sanitärer Zonen" offenbart sich dem vor Ort lebenden Schriftsteller Sergei Gerasimow in der NZZ die ganze Schizophrenie, ja: "Faschizophrenie" Putins: "Sanitäre Zonen werden in der Regel um Einrichtungen herum eingerichtet, wo es eine Verschmutzung oder eine Kontamination gegeben hat. Allein der Gedanke an eine sanitäre Zone in der Ukraine spricht Bände darüber, was die Kremlführung, die sich so rührend um das Wohlergehen der Russen und der russischsprachigen Bürger bei uns kümmert, wirklich über diese denkt: Einerseits lieben wir euch so sehr, dass wir das Leben Hunderttausender Russen aufs Spiel setzen würden, nur damit eure Rechte nicht verletzt werden, andererseits behandeln wir euch wie eine stinkende Müllhalde, einen Rinderfriedhof oder einen Milzbrandherd und sind bereit, euer Gebiet in eine Wüste zu verwandeln - mit euch oder ohne euch, das ist uns egal."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2024 - Europa

Wenn jemand gegen Putin protestiert, dann ist er wohl verrückt! Der unter Pseudonym schreibende russische Journalist Boris Klad schildert in der FAZ, wie unter Putin das Instrumentarium, das schon in den Siebzigern gegen Dissidenten eingesetzt wurde, wieder aus der Mottenkiste geholt wird. Für Putin hat es viele Vorteile, Regimegegner in psychiatrische Anstalten zu schicken: "Wenn Dissidenten für verrückt erklärt werden, gibt es weniger 'politische' Prozesse, die Fassade der Legalität ist leichter aufrechtzuerhalten. Außerdem kann man Dissidenten so leichter kontrollieren. Denn im Unterschied zum Gefängnis mit seinen klaren Regeln kann man in einer Spezialklinik beliebig lange festgehalten werden. So kann man Oppositionelle loswerden, die das Gefängnis womöglich nicht bricht. Mittels Psychopharmaka lassen sie sich in 'Gemüse' verwandeln."