Fotolot

Die Weite des Geländes

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
16.05.2024. Familie ist bis heute ein zentrales Thema der Fotografie. Aber ob auf Social Media, Filmfestivals oder Ausstellungen: die SittenwächterInnen rücken heute wieder so schnell aus wie lange nicht mehr. Die berühmten Arbeiten von Sally Mann wurden sowohl von Rechten wie von Linken angegriffen. Fotografen wie Jo Jankowski nehmen ihren riskanten, aber auch essenziellen Ansatz wieder auf. Ist es Zufall, dass er abseits des Betriebs arbeitet?
Fotolot-Newsletter abonnieren
Die Familie war immer schon ein bedeutender Topos der Bildenden Kunst.

Abgesehen davon, dass Künstler Mitglieder ihrer eigene Familie darstellten, waren es vor der bürgerlichen Revolution im 19. Jahrhundert vor allem die Familien des Hochadels - Grafen, Fürsten, Königinnen -, die von Malern in Szene gesetzt wurden.  Die Bilder dienten dazu, die Dargestellten zu überhöhen, die Legitimität ihrer Ansprüche zu festigen und die dynastische Kontinuität des Anspruchs auf die Herrschaft zu repräsentieren.

Von künstlerischer Bedeutung sind dabei vor allem Bilder, in denen sich Maler über die Erwartungen ihrer Auftraggeber nach Glorifizierung ihrer Person und ihres Rangs mal subtil, mal offen hinwegsetzen. (Dass es nicht viele herausragende Zeugnisse dieser Art gibt, liegt schlicht daran, dass Künstler von Rang in den Reihen des Adels oder des Klerusnur selten auf zugleich uneitle und an der uneigennützigen Förderung von Gegenwartskunst interessierte Persönlichkeiten trafen - heute gibt es das so gut wie gar nicht mehr.)

Diego Velázquez setzte sich in "Las Meninas" (1656) selbst beim Malen in Szene. Mit dem Pinsel in der Hand steht er am linken Bildrand vor der Leinwand und ist dabei die größte Person auf dem Bild. In Anwesenheit der Infantin Margarita, einiger Hoffräulein, einer damals üblichen Hofzwergin und einem Hund malt er das spanische Königspaar Philip IV. und Isabella, das nur im abgedunkelten Bildhintergrund auf einem Spiegel zu sehen ist.  Velázquez konnte sich das leisten. Der König hatte ihn in den Adelsstand erhoben, ihm im Palast eigene Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt und erfreute sich bei häufigen Besuchen an seinem Genie - nicht anders als Maler des 20. Jahrhunderts von Picasso bis Lucian Freud oder Philosophen wie Michel Foucault, die sich intensiv mit Velázquez' Werk auseinandersetzten.

Etwa 150 Jahre später malte Francisco de Goya "Die Familie Karls. IV." Wie Velázquez hat sich Goya auch am linken Bildrand verewigt, aber nicht offensiv, sondern im Schatten stehend, verdeckt von vor ihm stehenden Mitgliedern der königlichen Familie, sodass nur sein Kopf zu sehen ist und sein zweifelnder Blick, der den des Betrachters trifft. Goya zeigt das Königspaar in bemerkenswerter Hässlichkeit - der König selbst war infolge von Inzucht geistig zurückgeblieben, seine Frau Maria Luisa leitete die Staatsgeschäfte und konnte es sich leisten, ein offenes Verhältnis mit einem Offizier der spanischen Armee zu führen, der zugleich auch der Vater ihrer jüngsten Kinder war. Goya, im Herzen Republikaner, drückt mit diesem Bild seine grundsätzliche Skepsis darüber aus, ob ein solcher Adel - noch dazu qua Geburt - wirklich geeignet war, die Geschicke ganzer Länder in seinen Händen zu halten.

Diego Velazquez, Las Meninas


Mit dem Aufkommen des imperialen Kolonialismus und des daraus entstehenden Welthandels spielte spätestens seit der französischen Revolution auch das Bürgertum eine immer größere, einflussreiche Rolle und eroberte dementsprechend auch den Bildraum der Kunst, Vorgänger waren dabei die Porträts wohlhabender Bürger und Bürgerinnen von Jan Steen bis Jean-Auguste-Dominique Ingres.

Edouard Manets "Der Balkon" (1868-69) ist von einer Balkonszene Goyas inspiriert und macht klar, dass nicht mehr nur Könige, Feldmarschalle oder Päpste auf einen Balkon treten und Bedeutendes zu verkünden haben. Manets Freunde verfolgen das (für den Betrachter unsichtbare) Geschehen auf der Straße und geben Hinweise darauf, dass sich die unausweichliche Klammer der Blutsverwandtschaft zu lockern beginnt, und dass sich die Emanzipation der Frauen - verkörpert von der Malerin Berthe Morisot - maximal noch verzögern, aber nicht mehr aufhalten lässt.

Die Erfindung der Fotografie fällt in die Zeit nicht nur der bürgerlichen, sondern auch der industriellen Revolution. Zugleich mit ihr entstanden: Statistik, Kriminologie, Psychologie und Psychiatrie, Verhaltensforschung, Evolutionstheorie, Telegraf und Penicillin. Kurz davor gab es bereits den Siegeszug der Dampflokomotive, kurz darauf den des Telefons.

Ob Daguerre/Niépce (1829) oder Fox-Talbot (1841): Die Fotografie schlug sofort ein. Kein Wunder, gab sie doch ein beispielloses Versprechen: Das fotografierte Haus "ist das erste, von dem man sagen kann, es habe sein eigenes Bild gezeichnet." (Fox-Talbot, "The Pencil of Nature"). Emile Zola verstieg sich 1901 angesichts der Pariser Fotografien von Eugène Atget zu der Behauptung: "Meiner Ansicht kann niemand behaupten, etwas wirklich gesehen zu haben, solange er es nicht fotografiert hat."

Als George Eastman Ende des 19. Jahrhunderts die erste Kodak-Kamera unter dem Motto "You press the button, we do the rest" auf den Markt brachte, gab es kein Halten mehr. Die Niedrigschwelligkeit der neuen Technik machte sie von Beginn an auch für Leute interessant, die in Bezug auf die Malerei Berührungsängste hatten. Schon im London des 19. Jahrhunderts klagte Samuel Butler dementsprechend darüber, "dass hinter jedem Busch ein Fotograf steht, der herumläuft wie ein Löwe auf der Suche nach etwas, das er verschlingen kann."

Porträts von Familienmitgliedern und Freunden waren von Beginn an ebenso beliebt wie Landschaftsaufnahmen und Postkarten, die nackte Frauen zeigen - und so ist es bis heute geblieben, da es im Zuge der diesjährigen RAY -Triennale für Fotografie ab 30. Mai die über einen Zeitraum von 48 Jahren entstandene Serie "The Brown Sisters" von Nicholas Nixon zum ersten Mal zur Gänze in Deutschland zu sehen gibt. Das erste Bild entstand 1975, als die Geschwister zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren alt waren.

© Larry Sultan, MACK Verlag


Ein Gegengewicht zum humanistisch grundierten Sentiment von Nixons Serie (das heute etwa Messen wie die Paris Photo massiv flutet) bietet die Serie "Pictures from Home" (1992) von Larry Sultan über seine Eltern, die in Palms Springs in privilegierten Verhältnissen ihren Lebensabend verbringen. Sultan begann sein Projekt, als Ronald Reagan Präsident wurde, und die Erfolgsgeschichte der "All-American-Family" als Kitt des nationalen Zusammenhalts beschwor, dessen soziale Fundamente er im Hintergrund aus den Angeln zu heben begann.

Die Serie ist einerseits ein Dokument der Liebe zu den Eltern, von denen Sultan am Ende des Projekts sagte, er wünschte sich, sie würden nie sterben; auf der anderen Seite ist es ein ironischer, leichtfüßiger Kommentar zu einem amerikanischen Mythos, den man in Filmen der Nachkriegszeit wie "A Place in the Sun" (1951) von George Stevens oder "Written in the Wind" (1956) von Douglas Sirk besichtigen kann.

Die Ausstellung "Family Affairs" bot 2021 in den Hamburger Deichtorhallen einen kleinen Überblick über gegenwärtige Tendenzen auf diesem Gebiet. Fotos: die Frauen beim Stillen zeigen; die Eltern beim Sterben und Jugendliche durch die Pubertät begleiten; die eine Tochter macht, die qua Reenactment in die Kleider ihrer verstorbenen Mutter schlüpft;  die beauftragte Statisten eine Familie vortäuschen lassen; die die Wahlfamilie einer lesbischen Community versammeln.

In Deutschland gehört die Beschäftigung mit der Familie in der Fotografie zu den wichtigsten Themen überhaupt. Die Abschlüsse von Studierenden staatlicher und privater Schulen quellen über davon - verständlicher Weise, schließlich ist es das, worauf sich junge Menschen am unmittelbarsten beziehen können, das, womit sie auch als Erwachsene immer wieder konfrontiert sein werden, ob bei der Geburt eines eigenen Kindes oder beim Tod der Eltern.

Ein Schwerpunkt der jüngsten Vergangenheit ist vor allem die Konstellation Mutter/Kind.

Die dahingehend einflussreichste Fotografin ist die in New York beheimatete Elinor Carucci mit ihrem Fotobuch "MOTHER" (2013). Wer es noch nicht kennt, dem/der wird wie Schuppen von den Augen fallen, wie sehr die gehobene Mainstream-Kultur von der Vogue bis zum Zeit-Magazin bei diesem Thema von Caruccis Ästhetik geprägt ist. Kein Wunder, verkörpern sich darin Themen wie Female Gaze, Body Positivity, Empowerment und die Art und Weise, wie Frauen sich selbst sehen und gesehen werden möchten.

© Elinor Carucci, Prestel verlag


Katharina Bosse hat eine deutsche, soll heißen: gelassenere Variante und zugleich eine der eindrücklichsten Serien zu diesem Thema geschaffen - nicht zuletzt in der Art und Weise, wie sie die Szenerie in Idyllen europäischer Landschaftsmalerei von Claude Lorrain bis Caspar David Friedrich bettet (und dadurch wiederum eine Brücke zu einer Position wie der von Jeff Wall baut).

Ein Pionier war in Deutschland dahingehend (wie schon das eine oder andere Mal in Fotolot erwähnt) Fred Hüning mit seinem dreiteiligen Mutter/Sohn-Projekt "One Circle", das inzwischen ikonischen Charakter hat und auf diesem Gebiet zur Grundausstattung für den Unterricht an Hochschulen nicht nur in Deutschland gehört.

Aktuell eine der interessantesten Arbeiten ist die international mehrfach ausgezeichnete Serie "PLEXUS", in der Elena Helfrecht mit Recherche und Rekonstruktion, Assoziationen und Traumbildern der weiblichen Linie ihrer Verwandtschaft nachspürt.

Die Serie, die am meisten Aufruhr verursachte, die Bewunderung, aber auch blankes Entsetzen und Hass auf sich zog, war wohl "The Immediate Family" (1992) von Sally Mann. Die Art und Weise, wie Mann ihre nackten, heranwachsenden Kinder auf ihrer weitläufigen Ranch in Kentucky (mit Pferden, Wald und Wildbach) herumtoben ließ und sie teils inmitten angezogener Erwachsener zeigte, hat im Namen des Familien- und Kinderschutzes zuerst die amerikanische Rechte, zwei Jahrzehnte später dann die Linke gegen sie aufgebracht und nach einem Verbot der Verbreitung und Ausstellung dieser Bilder rufen lassen, obwohl Manns erwachsene Kinder zu ihnen stehen und vor ihnen posieren.

Mann ließ das alles ungerührt an sich abtropfen und ist heute auf ihrem Gebiet eine künstlerische Ikone des amerikanischen Südens wie Tennesse Williams. (Mit Bedauern denke ich daran zurück, dass ich sie im Zuge eines Artist in Residence - Aufenthalts besuchen wollte, am Ende aber auf einem OP-Tisch landete, statt in Lexington.)

Die Fotos, die Jo Jankowski in den letzten zwanzig Jahren von seiner Frau und den gemeinsamen Kindern gemacht hat, sind von ähnlicher Art - riskant, schrankenlos, angreifbar.

© Jo Jankowski


Ich stieß im Zuge des Berliner "Monats der Fotografie" 2023 bei seiner parallel stattfindenden Off-Variante darauf.

Zu diesem Anlass stellte er in seinem damaligen Moabiter Atelier einen Auszug aus der Serie  "The Untouched Generation" vor, die das eingeschränkte Partygeschehen von Jugendlichen aus dem Umkreis von Jankowskis älteren Kindern während der Corona-Zeit zum Thema hat. In einem leicht versifften Partykeller wird Bier getrunken und Billard gespielt - die Jungs mit nacktem Oberkörper, die Mädchen mit knappen T-Shirts oder Sport-BH bekleidet. Es herrscht eine verhalten sexuelle Spannung, zugleich aber etwas Desperates, Lethargisches, das nicht zwingend von der Anwesenheit des Fotografen her rührt. Ich habe mich gewundert, dass Jankowski dafür den Publikums-Preis bekam, aber er erzählte, dass er auch giftige Kommentare für die Fotos bekommen hat und vereinzelt Forderungen laut wurden, er dürfe nicht am Wettbewerb teilnehmen. Ob auf Social Media, Filmfestivals oder Ausstellungen: die SittenwächterInnen rücken heute wieder so schnell aus wie lange nicht mehr. Bei einigen von Jankowskis Familienfotos steht zu befürchten, dass manche gleich wie in allen Zeiten zu schwerem Gartengerät greifen.

Jankowski war mir bis dahin unbekannt.

Er hat noch die Goldene Ära der Magazin- und Werbefotografie erlebt, als es Kunden gab, die ein Riesenteam fünf Tage lang auf Mauritius Bilder schießen ließen, bei dessen Rückkehr an Details herum mäkelten, um das Team stehenden Fußes wieder nach Mauritius fliegen zu lassen - die üppigen Honorare wurden extra verrechnet.
Als ich mich im Netz über ihn kundig machte, stieß ich auf das Foto einer schwangeren Frau mit nacktem Oberkörper, die lässig an einer Wand lehnt und entspannt in Richtung des Fotografen schaut: Nicht anders als bei Hüning dessen Partnerin Karoline, bildet Jankowskis Frau Michelle den Angelpunkt und das Herz dieser gewagten Familienaufstellung.

Ausgangspunkt dafür ist ein auf mehrere Gebäude verteilter, ehemaliger Bauernhof in Brandenburgischer Einöde, der von mehreren Familien und deren Kindern genutzt wird.

Während die Erwachsenen an der Instandsetzung der Gebäude arbeiteten, erkundeten die Kinder - nicht anders als auf Sally Manns Farm -  ungezwungen die Weite des Geländes und nicht zuletzt sich selbst und ihre Beziehungen untereinander. Sie wuchsen so auf wie ich am Bauernhof meiner Großeltern: Nach dem Frühstück verließ ich das Haus und zog mit einer Gruppe von Kindern den ganzen Tag auf uns selbst gestellt durch die Gegend. Nach Hause gingen wir nur, wenn wir hungrig oder müde waren.

© Jo Jankowski


Die Schwarzweiß-Fotos sind in ihrer Lebendigkeit großartig - über die Jahre haben sich Tausende davon angesammelt, ein Dickicht, das Jankowski selbst nicht mehr durchdringt. Eine Kuratorin oder ein Verleger, die sich dieser Sache annehmen, könnten in Jankowskis Archiv reiche Ernte halten. Jankowski selbst fehlen dafür schlicht die Energie und das Interesse. Erstere braucht er für den Broterwerb und die Arbeit am Grundstück, die nie ein Ende findet. Und wer so lange bewusst abseits des Betriebs gewirkt hat und immer wieder der Großstadt entfliehen muss, interessiert sich nicht für Betriebsparameter wie Etikette, Hierarchien und Fristen.

Unabhängig von Jankowskis Oeuvre stellte sich mir nach der Durchsicht seines Archivs wieder einmal die Frage: Angesichts der verschulten Fotoszene, der lähmenden Wirkung von Sensitivity Reading auf Literaturverlage und Theater sowie der risikoscheuen Kunstferne der Filmförderung - wie viele markante Werke aller Sparten landen heute wieder von der Öffentlichkeit unbemerkt in einer Schublade oder auf einer externen Festplatte?

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de