Intervention

Opferlegenden

Von Richard Herzinger
24.04.2024. Eine globale Front autokratischer Länder missbraucht die Instrumentarien des internationalen Rechts, um westliche Demokratien propagandistisch in die Defensive zu drängen. Dafür ist das Kunstwort "Lawfare" geprägt worden - Kriegsführung mit juristischen Mitteln. Ausgerechnet Länder des "globalen Südens" wie Nicaragua oder Südafrika nutzen sie, um ihre eigenen Komplizenschaften zu verdrängen - und tatsächliche Völkermorde werden nicht thematisiert.
Verstärkt missbraucht die globale Front autokratischer und totalitärer Mächte die Instrumentarien des internationalen Rechts, um die  westlichen Demokratien damit propagandistisch in die Defensive zu drängen. Kritische Bobachter haben für ein derartiges Vorgehen den Begriff "Lawfare" geprägt, zusammengesetzt aus den englischen Wörtern "warfare" (Kriegsführung) und "law" (Recht).

So brachte jüngst Nicaragua die Dreistigkeit auf, Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof zu verklagen, weil sich dieses mit seiner Unterstützung für Israel der Beihilfe zum "Völkermord" in Gaza schuldig mache. Nicaragua wird nicht nur von einem kleptokratischen Diktator, dem ehemaligen sandinistischen Revolutionsführer Daniel Ortega, beherrscht, der Oppositionelle und Abweichler brutal verfolgen lässt. Es gehört auch zu den wenigen Staaten, die in den UN gegen die Verurteilung des russischen Vernichtungskriegs in der Ukraine gestimmt haben.

Nicht nur zu Russland unterhält das nicaraguanische Regime engste Beziehungen - militärische Kooperation eingeschlossen -, sondern auch zur Islamischen Republik Iran, die mit ihren Drohnenlieferungen an Moskau entscheidend zu dem systematischen Terrorbombardement gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur beiträgt. Es ist somit Nicaragua selbst, das sich als Komplize von Völkermördern betätigt.

Doch der Versuch, die Institutionen des internationalen Rechts zu instrumentalisieren, um  dessen Geist und Buchstaben ins Gegenteil zu verkehren, hat Methode. So hat Südafrika, das mit Russland und Iran in der BRICS-Gruppe verbunden ist, gegen Israel Klage beim Internationalen Gerichtshof wegen eines angeblichen Genozids an den Palästinensern erhoben. Als hingegen die Kriegsachse Moskau-Teheran im Bunde mit dem Diktator Assad ihren Vernichtungskrieg gegen die syrische Zivilbevölkerung führte und große Teile des Landes in Schutt und Asche legte, fand sich kein Staat des "Globalen Südens", der Russland und Iran wegen seiner genozidalen Praktiken angeklagt hätte. Ebensowenig konnte sich bisher irgendein Land dazu entschließen, die russische Führung wegen ihrer offen erklärten Absicht, die ukrainische Nation auszulöschen, vor die UN-Justiz zu bringen.

Auch andere genozidale Verfolgungen wie die der Uiguren durch das chinesische Regime rufen international vergleichsweise wenig Empörung hervor. Und während alle Augen auf die vermeintlichen Untaten Israels in Gaza gerichtet sind, interessiert sich kaum jemand für die katastrophale Lage im Sudan: 8,6 Millionen Flüchtlinge, über 14.000 Tote und circa 17 Millionen von Hunger bedrohte Menschen lautet dort die Bilanz von einem Jahr Bürgerkrieg.

Ausgerechnet Regierungen des "Globalen Südens", die in dieses Fällen auffallend leise sind, werfen nun dem Westen "Doppelmoral" vor, weil er die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine schärfer verurteile als das angeblich vergleichbare Vorgehen der israelischen Armee in Gaza. Doch so legitim und geboten es ist, Israel wegen eventueller Verstöße gegen das Kriegs- und Völkerrecht zu kritisieren und gegebenenfalls zur Rechenschaft zu ziehen - der fundamentale Unterschied zwischen dem israelischen Verteidigungskrieg gegen die Hamas und dem russischen Ausrottungsfeldzug gegen die Ukraine ist offenkundig.

Russland führt nämlich nicht Krieg, weil es zuerst von ukrainischen Mordkommandos überfallen worden wäre. Während Israel auf die sehr reale existenzielle Bedrohung durch einen Feind reagiert, der aus seiner Absicht, den jüdischen Staat zu vernichten und so viele seiner Bürger wie möglich zu töten, keinen Hehl macht, bestehen die Vorwände, die Russland für seinen Überfall auf die Ukraine anführt, samt und sonders aus reinen propagandistischen Erfindungen.

Israels Armee ermordet auch nicht, wie die russischen Truppen in der Ukraine, gezielt Zivilisten oder quält sie zu Tode, plündert nicht deren Häuser, vergewaltigt nicht systematisch Frauen, foltert und kastriert keine Kriegsgefangenen und verschleppt nicht massenhaft Kinder zur "Umerziehung" mit dem Ziel, sie ihrer nationalen Identität zu berauben. Keines dieser eindeutigen Merkmale eines planmäßigen Genozids trifft auf Israels Handeln zu. Zweifellos bedeutet der Krieg in Gaza für die dortige Bevölkerung furchtbares Leid. Doch wer dieses ausschließlich auf Israel schiebt, verschweigt, dass hohe zivile Opferzahlen von vornherein Teil des Kriegskalküls der Hamas waren, die ihre militärischen Anlagen deshalb systematisch in zivilen Einrichtungen installiert hat.

Die Stigmatisierung Israels als Verursacher eines "Völkermords" basiert nicht zuletzt auf der Opferlegende von der "Nakba", der angeblichen Vertreibung von etwa 700.000 Palästinensern durch Israel. Tatsächlich kam es, als sich Israel unmittelbar nach seiner Gründung 1948 des kriegerischen Angriffs arabischer Staaten erwehren musste, zu Übergriffen gegen Teile der arabischen Bevölkerung Palästinas. Einen systematischen Vertreibungsplan seitens der israelischen Regierung und Armee gab es jedoch nicht. Und zahlreiche palästinensische Araber verließen aus eigenem Antrieb ihre Heimat, weil sie nicht in einem jüdischen Staat leben wollten und die arabischen Machthaber ihnen ihre baldige Rückkehr nach der Zerstörung des "zionistischen Gebildes" versprachen.

Der antiisraelischen Propaganda ist es jedoch gelungen, ihre Version von der "Nakba" als einer planmäßigen "ethnischen Säuberung" im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu verankern, während die fast vollständige Vertreibung der arabischen Juden weitgehend aus ihrer Erinnerung verschwunden ist. Dabei wurden von Anfang des Krieges von 1948 bis in die frühen 1970er Jahre zwischen 800.000 und einer Million Juden aus ihren Heimatgebieten in den arabischen Staaten vertrieben oder mussten vor Verfolgung flüchten. Zum Zeitpunkt des Jom-Kippur-Kriegs von 1973 existierte praktisch keine jüdische Gemeinde mehr in der gesamten arabischen Welt.

Auch diese Diskrepanz in der historischen Wahrnehmung zeugt von der fortschreitenden Verwirrung der Maßstäbe von Recht und Unrecht. Im Zuge des globalen Großangriffs diktatorischer Mächte auf die regelbasierte liberale Weltordnung wird sie zur eminenten Gefahr. 

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.