Im Kino

Die ein oder andere Merkwürdigkeit

Die Filmkolumne. Von Tilman Schumacher
24.04.2024. Drei amerikanische "Histories of Violence": Lisandro Alonsos neuer Film beginnt mit einem revisionistischen, bleihaltigen Westernszenario voller von Fliegen umschwirrter Holzsärge, setzt sich in der Alltagstristesse eines gegenwärtigen Lakota-Reservats fort und landet schließlich im brasilianischen Urwald. "Eureka" ist bei all dem eher sinnliches Mahnmahl als erklärungswütige Geschichtsstunde.

Lisandro Alonsos "Eureka" setzt mit tiefenscharfen Schwarzweißbildern einer Küstenlandschaft ein. Wellen brechen sich an zerklüfteten Felsformationen, ein federschmuckbehangener Native American singt von einem Plateau aus, seinen Speer in den Himmel streckend, ein rituelles Lied, dessen Inhalt uns nicht mitgeteilt wird. Während man noch dabei ist, sich auf den Filmanfang einen Reim zu machen sowie das Ganze zeitlich und räumlich einzuordnen, gibt es den ersten Szenenwechsel: Eine Pferdekutsche schlängelt sich durch die Steppe, auf ihr eine abgehalftert aussehende Nonne, der von Fliegen umschwirrte Holzsarg eines Kindes und ein Mann in Gunslingerkluft. Gespielt wird er von Viggo Mortensen, der bereits zehn Jahre zuvor in Alonsos "Jauja" zu sehen war. Das ist nicht die einzige Parallele, denn "Eureka" ist wie "Jauja" ein Historienfilm, der sein Setting in detailverliebtem Digitalkameralook und zugleich "altehrwürdigem", fast quadratischem Normalbildformat (samt abgerundeter Bildecken) präsentiert. Wenn man so will: die Verbindung einer zeitgenössischen und einer pseudohistorischen Ästhetik. Das scheint sich zunächst zu beißen, die ausgestellte Künstlichkeit fesselt dann aber doch.

Auch thematisch schließt "Eureka" an den Vorgängerfilm an: Hier wie dort ist Mortensens Figur auf der Suche nach seiner entlaufenen Tochter; Murphy ist ein nervös-brüchiger Übervater voller Wut. In einem Kaff nahe der mexikanischen Grenze angekommen, hält er Ausschau nach dem Clananführer, der angeblich "seine" Molly stahl. In diesem gottverlassenen Ort registrieren ihn nur diejenigen, die seine Anwesenheit zu fürchten haben. Alle anderen suhlen sich im Dreck oder pissen in die Häuserecken - ein revisionistisches Westernszenario ohne jeglichen Pioniergeist, wie dem Italo- oder US-Antiwestern der 1970er Jahre entliehen, bloß eben in der Weise eines Films aus den 1940ern komponiert. In dem Moment, in dem Murphy die Fährte aufnimmt, beginnt schon das Blutbad. Schnelle Schnitt- und Schusswechsel, absurd drapierte Leichen, an die Wand spritzendes Blut. Es fühlt sich wie waschechtes Genrekino an, bis Eureka inmitten der Klimax plötzlich die Richtung wechselt.

Mortensens Close-Up erscheint auf einem Fernsehbildschirm; wir befinden uns in einer Küche. Der Film läuft nebenher, wird von der vorbeigehenden Frau in Polizeiuniform kaum wahrgenommen. Wovon er erzählt, hat sowieso nichts mit ihrem Leben als indigener Officer in der verschneiten Lakota-Gemeinde South Dakotas zu tun. Wobei es auch in dieser Episode zum Shootout kommt, auch hier das "Faustrecht" regiert. Eine History of Violence zieht sich durch die Vereinigten Staaten. Sie bestimmt das ausgehende 19. Jahrhundert ebenso wie die Gegenwart. Bevor die neue Episode beim Tatort ankommt, folgen wir Alaina (Alaina Clifford) in aller Ruhe beim Streifendienst durch ihren District. Die auf Breitwand "geweiteten" Kamerabilder bleiben auf Abstand, eben so wie wir über die Hintergründe unserer Heldin denkbar wenig erfahren, vor allem, wenn man bedenkt, wie viel Zeit wir mit ihr verbringen. War der erste Teil "Pulp Fiction", ist der zweite nüchterner Verismus.


Alonso nimmt sich die Freiheit, nach der "Western-Ouvertüre" nur noch - und zwar mit feierlichem Ernst - von Situationen und Vorgängen zu berichten, statt eine konventionell kohärente Filmstory auszubreiten. Es bleibt dem Publikum überlassen, die Zeichen zu lesen. Das heißt: In den Gesichtern die Gefühle auszumachen, die historische Dimension der Figuren zu erahnen. Was hat der singende Ureinwohner vom Filmbeginn mit der Grenzstadt kurze Zeit darauf zu tun? Gibt es eine innere Verbindung zwischen den an den Rand gedrängten Natives des Westerntown-Mollochs und der Reservattristesse der unmittelbaren Gegenwart? Alonso liegt es wie in seinem restlichen Oeuvre fern, den Filminhalt auszubuchstabieren, oder auch nur den Titel des Films zu erklären.

Einen besonders rätselhaften Verlauf nimmt das Leben der fünfzehnjährigen Sadie (Sadie Lapontie), der Nichte Alainas. Von der Schwere des Reservatalltags niedergedrückt, besucht sie die Ranch ihres Großvaters, der noch die Bräuche des Stammes kennt. Sie sei bereit, auf das Versprechen zurückzukommen, das er ihr einst gab. Nach kurzem Zögern willigt der Alte ein, ihr ein Kraut in die Tasse zu bröseln. Nachdem sie es mit heißem Wasser aufgegossen und getrunken habe, beginne für sie ein neues Leben, so der Schamane. Und dann spricht er den Schlüsselsatz des Films aus: "Always remember: Space, not time. Time is a fiction invented by men."

Vom vereisten Mittleren Westen zum brasilianischen Tropenwald des Jahres 1974. Nach gut zwei Dritteln beginnt der zweieinhalbstündige Film von Neuem. Drei unabhängig voneinander auswertbare Filme stecken in "Eureka". Alonso montiert sie lieber gemeinsam mit seinem Cutter Gonzalo Del Val in traumgleich loser Reihung. Möglich macht den Shift von der zweiten zur dritten Episode ein teils animierter, teils ins Bild collagierter Pelikan, der als Sadies Metamorphose von der Ranch aus die Zeit durchfliegt. Ähnlich wie in den Filmen von Apichatpong Weerasethakul oder Miguel Gomes bringt der Einzug des Magischen in die Alltagswirklichkeit in "Eureka" den Film nicht in "Erklärungsnot". Der Vogel besetzt stellvertretend für den Film einen neuen Raum. Hier gibt es wieder Figuren, die kommen und gehen, gar solche, die buchstäblich verschwinden. Was mit Genrekinokinetik begann, kommt in Einstellungen satten Tropengrüns und sanfter Flussläufe fast zum Stillstand. Goldschürfende, indigene Tagelöhner suchen das Glück. Ob sie es finden?

"Eureka" ist ein düsterer, nie aber schwerfälliger Travelogue durch diverse Zeit-Räume des amerikanischen Kontinents. Keine "Geschichtsstunde", eher ein Mahnmal, ohne klar erkennbare Funktion. Wer bereit ist, sich ihm anzunähern, wird mit viel Sinnlichkeit belohnt - und auch mit der einen oder anderen Merkwürdigkeit.

Tilman Schumacher

Eureka - Argentinien 2023 - Regie: Lisandro Alonso - Darsteller: Viggo Mortensen, Chiara Mastroianni, Alaina Clifford, Safdie LaPointe, Viilbjørk Malling Agger - Laufzeit: 147 Minuten.