Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

Musik

3141 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 315

Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.05.2024 - Musik

Billie Eilishs drittes Studioalbum dreht sich um lesbischen Oralsex, Trennungsschmerz, kommt mit Balladen, aber auch dickem Bass daher - trotzdem wird Nadine Lange im Tagesspiegel nicht rundum glücklich: "Ambitionierte Klangkombinationen und überraschende Wendungen prägen einige der zehn neuen Lieder, wobei es mitunter - beispielsweise im zerfasernden 'Bittersuite' - so scheint, als seien Billie Eilishs Bruder Finneas beim Produzieren mal kurz die Pferde durchgegangen, ohne dass es den Song am Ende jedoch voranbringt. Beim fünfeinhalbminütigen 'L'amour De Ma Vie' lässt er eine dynamische Trennungsballade etwa in der Mitte in ein völlig neues Stück übergehen, das einen schnellen Technobeat mit Achtziger-Synthies und verzerrtem Gesang kombiniert. Inhaltlich hat dieser Shift allerdings Sinn, denn es geht darum, dass jemand nach dem Beziehungsaus schnell weitergezogen ist. Doch eigentlich hätte man auch gern ein komplettes Lied in dieser Aufmachung gehört oder wäre bei der Ballade geblieben."

Wir hören rein:



In der Welt fragt Andreas Rosenfelder, warum einen die Türsteher von Berliner Techno-Clubs plötzlich darüber belehren, dass sie "Pro-Palästina" sind. "Was sollte diese Mitteilung, die jedem neuen Gast wie eine Losung zugerufen wurde? Man muss sie wohl als Einlasskriterium interpretieren: Wer nicht widerspricht, stimmt der 'Pro-Palästina'-Haltung (was auch immer sich hinter der Formel verbirgt) stillschweigend zu. Wer hingegen ein Problem damit hat oder sich sogar als 'Pro-Israel' outet, hat im Club nichts verloren. ... Genau die 'pro-palästinensischen' Aktivisten, die bei jeder Ausladung über einen 'neuen McCarthyismus' klagen, haben unter Kulturschaffenden einen gnadenlosen Bekenntniszwang durchgesetzt, der an die paranoide Moskauer Kunstszene der Stalin-Ära erinnert, wo selbst ein richtiges Bekenntnis zur falschen Zeit in den Gulag führen konnte. Wie damals dient das symbolische Bekenntnistheater auch heute vor allem der Simulation von Politik."
Stichwörter: Eilish, Billie

Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.05.2024 - Musik

Rudolph Tang berichtet für VAN von den MeToo-Kontroversen am Zentralen Musikkonservatorium (CCOM) in Peking. "Auch wenn diese Anschuldigungen unbewiesen sind, machen sie doch auf strukturelle Probleme aufmerksam, auf Machtmissbrauch und Korruption an chinesischen Konservatorien. Hier haben die Entscheidungsträger große Spielräume bei den Zulassungsentscheidungen, Kontrollmechanismen gibt es wenige. ... Während chinesische Konservatorien denselben Antikorruptionsmaßnahmen unterliegen, auf deren Umsetzung Xi Jinping auch in anderen Bereichen der chinesischen Gesellschaft drängt, kann dieser Vorwurf genutzt werden, um potenzielle Konkurrenten auszuschalten - was bedeuten kann, dass auch nach dem Personalwechsel weiterhin Schmiergelder gezahlt werden, nur dass dann eine andere Person die Hand aufhält. Bevor solche Fälle, die Parteimitglieder von mittlerem bis hohem Rang betreffen, vor Gericht landen, ermittelt die Partei, um sicherzugehen, dass keine sensiblen Informationen an die Öffentlichkeit dringen." Dazu passend liest Merle Krafeld für VAN das Positionspapier der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen zum Umgang mit Machtmissbrauch.

Weitere Artikel: Florian Zinnecker porträtiert in der Zeit den 27-jährigen Pianistenstar Julius Asal. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Jazz-Schlagzeuger Billy Cobham zum 80. Geburtstag. Dierk Saathoff schreibt in der Jungle World einen Nachruf auf den Produzenten Steve Albini (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden Günter Attelns Kino-Porträtfilm "Joana Mallwitz - Momentum" (SZ, FD), das neue Soloalbum der Portishead-Sängerin Beth Gibbons (Standard, Welt), Adrianne Lenkers "Bright Future" (FR)  und ein Konzert von Julia Fischer in Frankfurt (FR).
Stichwörter: China, Machtmissbrauch, Korruption

Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.05.2024 - Musik

Die Musikkritiker rufen dem Jazz-Saxofonisten David Sanborn nach. Dass dieser eine Art Schweizer Taschenmesser seines Metiers und für Zusammenarbeiten weit über Genregrenzen gut zu haben war, statt sich ausschließlich der hehren Kunst zu widmen, hatte hier und da Zeit seines Lebens für gerümpfte Nasen gesorgt. Wolfgang Sandner macht in der FAZ das Beste draus: "Man muss lange forschen, um einen Musiker wie David Sanborn ausfindig zu machen, der in so vielen Genres zu Hause war, mit so vielen Ikonen von Jazz, Blues, Rhythm & Blues und Pop auf der Bühne oder im Studio stand - bei alledem ein Verwandlungskünstler von atemraubendem Speed. An einem Abend mit David Bowie vor zwanzigtausend Besuchern im New Yorker Madison Square Garden zu rocken und am nächsten Tag den Flieger nach Italien zu nehmen, um beim Jazzfestival in Perugia vor erlesenem Publikum den progressiven Sound des Gil Evans Orchestras zu bereichern - so etwas dürfte kaum einmal einem anderen Musiker gelungen sein."

Andrian Kreye würdigt in der SZ Sanborns "leicht kehligen Klang, den er mit emotionalen Wallungen auch auf die kurzen Strecken eines Pop-Solos in jene Gefühlshöhen treiben konnte, die einem das Herz ein wenig schneller schlagen lassen. Die Großen wussten das. David Bowie, der ihn für 'Young Americans' holte, Paul Simon, für den er auf 'Still Crazy After All These Years' spielte, James Taylor, der ihm Platz im Song 'How Sweet It Is' gab. Die Rolling Stones, Steely Dan und Miles Davis holten ihn, Bruce Springsteen, Sting und Roger Waters. Die Liste ist so lang, dass man locker einen Tag und eine Nacht eines Classic-Rock-Programms füllen könnte mit den Hits, die er mit seiner Hochspannung auflud." In der NZZ resümiert Ueli Bernays Sanborns Leben.



Weitere Artikel: Der Berliner Kultursenator Joe Chialo kommt bei der Neubesetzung der Intendanz des Berliner Konzerthauses neben der musikalischen Leiterin Joana Mallwitz derzeit wohl gut ins Schwitzen, berichtet Axel Brüggemann auf Backstage Classical, nachdem Chialo nun auch zwei Mitglieder der Findungskommission abgesprungen sind. Manuel Brug berichtet in der Welt von den Händel-Festspielen in Göttingen. Der österreichische Musiker Anatol Bogendorfer erinnert sich im Standard-Gespräch mit Karl Fluch an seine Zusammenarbeit mit dem eben verstorbenen Produzenten Steve Albini.

Besprochen werden eine Georg-Kreisler-Soirée in Frankfurt (taz), ein Auftritt in Wien des Rappers Danny Brown (Standard) und das neue Album der Portishead-Sängerin Beth Gibbons (Tsp).

Stichwörter: Jazz, Sanborn, David

Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.05.2024 - Musik

Einfach nur abscheulich fand Lena Karger (FAZ), wie beträchtliche Teile des Saalpublikums, aber auch andere Musiker des ESC mit der israelischen Sängerin Eden Golan umgegangen sind: Das war "nichts anderes als widerlicher menschenbezogener Hass. Er richtete sich gegen sie als Teil einer Gruppe: als Israelin. Die junge Frau wurde bedrängt, gemobbt und herabgewürdigt, obgleich sie mit der israelischen Regierung nichts zu tun hat. Das Wort für diese Art des Menschenhasses ist: Antisemitismus." In der Schweiz freut sich die nonbinäre Community über Nemos ESC-Triumph, berichtet Timo Posselt auf Zeit Online.

Weitere Artikel: Günther Haller blickt für die Presse auf die steinige Entstehungsgeschichte des Brucknerhauses in Linz. Ljubiša Tošić ist im Standard gespannt auf das Konzert von Peter Herbert am kommenden Donnerstag in Wien. Besprochen werden ein Auftritt des Brad Mehldau Trios (FR), Danger Dans Auftritt beim Klavierfest des Lucerne Festivals (NZZ) und Kahil El'Zabars Auftritt mit seinem Heritage Ensemble beim Berliner Xjazz-Festival (Tsp).
Stichwörter: Golan, Eden, Esc, Antisemitismus

Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.05.2024 - Musik




Der im Vorfeld vielleicht aufgeladenste Eurovision Song Contest in der Geschichte des Musikwettbewerbs ist zu Ende: Mit Nemo gewinnt die erste nichtbinäre Person den Wettbewerb und wurde vom Saalpublikum gefeiert, das bei wieder jeder sich bietenden Gelegenheit die israelische Teilnehmerin Eden Golan mit so lautstarken wie idiotischen Buhrufen mobbte (an den TV-Geräten waren sie wegen vorgeschalteter Buh-Filter nur schwer hörbar, dies änderte sich aber später bei der Punktevergabe). Das Publikum zuhause an den Empfangsgeräten machte dies immerhin ein bisschen wett, berichtet Jan Feddersen in der taz: "Erstaunlich war nicht der fünfte Platz für" die israelische Sängerin, "sondern, dass sie in der Publikumswertung die zweitmeisten Stimmen erhielt - und am häufigsten auch mit der Länderhöchstzahl von zwölf Punkten bedacht wurde. Sie lag nicht nur beim deutschen Publikum weit vorn, sondern auch in anderen Ländern, in denen starke propalästinensische Proteste und Diskurse die Öffentlichkeit bestimmen, etwa den Niederlanden, in Frankreich, Spanien und Belgien sowie in Schweden als gastgebendem Land selbst." Lena Karger (Welt) "lässt das Ergebnis hoffen, dass die Stimmen der Israel-Hetzer auf den Straßen vielleicht die lautesten, aber nicht die meisten sind".

Judith Liere trauert auf Zeit Online um die Zeit, als Eurovision-Berichterstattung sich ganz einfach noch am schönen Tand von Glitzer, Oberflächlichkeiten, von Performances und Bühnenbildern erfreuen konnte. "Die Welt ist offenbar zu kaputt, als dass man noch konsequent Eskapismus betreiben könnte." Die Tausenden antiisraelischen Hetzer, die die Bilder aus Malmö in den Tagen vor dem Wettbewerb bestimmten, trübten die Atmosphäre schon ziemlich ein, auch "auf den Pressekonferenzen waren die Anfeindungen anderer Teilnehmer gegenüber Eden Golan deutlich sichtbar." Der Abend selbst war dann aber "eine recht souveräne, ziemlich typische ESC-Sause".



Die ESC-Abstimmungen sind auch immer Ausdruck nationaler Befindlichkeiten der einen Länder gegenüber den anderen, schreibt Rahel Zingg in der NZZ. "Dass die kleine Schweiz gewonnen hat, und zwar ohne nennenswerte Lobby, heißt: Es liegt vor allem am Song und an Nemos Auftritt. Da ist Wucht, da ist Präzision, eine Dringlichkeit im Gesang: Nemos perfekter Sturm auf der Bühne. Musikalisch ist 'The Code' das ideale Eurovision-Song-Contest-Werk. Ein euphorischer Ohrwurm, der klingt, als hätten die Band Queen, Eminem und Mozart gemeinsam Pate gestanden." Auch für tazler Jan Feddersen gibt es keinen Zweifel daran, dass dieser "Sieg verdient ist. ... Dieses eidgenössische Wesen ist der perfekte Akkord gegen den Rechtspopulismus in der Schweiz."

Matthias Kirsch hat sich für Zeit Online derweil den Abend vor der Arena vertrieben und die zahlreichen antiisraelischen Proteste genauer angesehen, bei denen auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg medienwirksam von der Polizei abgeführt wurde. "Den ganzen Abend, bis lange nach Mitternacht werden die Contest-Besucher aus den Ausgängen strömen, werden vor der Arena in Malmö Polizisten und Demonstrierende Katz und Maus spielen, werden junge Menschen mit sogenanntem Palästinensertuch an Kopf, Hals oder Handgelenk durch Seitenstraßen zur Arena zurückkommen, nur um wenige Minuten später wieder von einer Polizeikette zurückgedrängt zu werden. Am Ende wird die Polizei die Mannschaftswagen aus drei Nationen überall um die Arena platzieren. Damit, mit diesem eisernen Ring, ist auch der leiseste Anflug von gewaltsamem Protest, sofern man das überhaupt so nennen kann, verflogen."

Weitere Artikel: Antonia Munding wirft für Backstage Classical einen Blick darauf, wie Klassikorchester mit Menschen mit Handicaps umgehen. Walter Dobner staunt in der Presse über den kometenhaften Aufstieg des Dirgenten Klaus Mäkelä. Für Monopol spricht Thomas Abeltshauser mit Peaches, über die gerade ein (in der Jungle World besprochener) Porträtfilm im Kino läuft. Jakob Thaller porträtiert im Standard den österreichischen Rapper Money Boy, der vor ein paar Jahren als Ulk-Satireprojekt begonnen hat, nun aber tatsächlich ziemlich erfolgreich im Rap ist. Für die FAZ plaudert Christian Riethmüller mit Slash über dessen neues Solo-Album "Orgy of the Damned". In der FAZ gratuliert Max Nyffeler der Komponistin Judith Weir zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden das zweite Album von Die Partei in 40 Jahren (FAZ, mehr dazu bereits hier), ein Smetana-Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (SZ), ein gemeinsames Album der Pianistin Hélène Grimaud und des Baritons Konstantin Krimmel mit Schumann- und Brahms-Aufnahmen (FAZ) sowie ein Kreisler-Abend mit Torsten Flassig und Yuriy Sych in Frankfurt (FR).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Gijs Wilbrink über den Riot-Grrrl-Klassiker "Rebel Girl" von Bikini Kill:

Stichwörter: Golan, Eden, Nemo, Esc, Thunberg, Greta

Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.05.2024 - Musik



Krakeeler und BDS-Aktivisten haben Schaum vorm Mund: Eden Golan hat für Israel den Sprung ins Eurovision-Finale geschafft, das heute Abend stattfindet. Auf den Straßen von Malmö bestimmen diese Aktivisten dennoch die Atmosphäre und sorgen für teils hässliche Bilder. Im FAZ-Kommentar vermisst Alfons Kaiser die "Zeiten, als die Kandidaten des Eurovision Song Contest (ESC) noch auf offenen Booten durch Rotterdam oder Belgrad schipperten und auf der Straße vor ihren Hotels Autogramme verteilten!" Anders 2024: "Am Donnerstag forderten etwa 10.000 Menschen unter Mitwirkung Greta Thunbergs den Ausschluss Israels vom Wettbewerb und skandierten teils antisemitische Parolen. ... Die israelische Kandidatin Eden Golan muss um ihre Sicherheit fürchten und sich an unbekanntem Ort aufhalten, eine öffentliche Partymeile wurde abgesagt, die Polizei in der an Konflikte gewöhnten südschwedischen Stadt holt Verstärkung aus Dänemark und Norwegen."

Jan Feddersen bestätigt in der taz: "So was hat es in der Geschichte des Eurovision Song Contest noch nie gegeben: dass eine Sängerin von ihrem Hotel in die Malmöer Arena, wo sie am zweiten Semifinale dieses Pop-Festivals teilnimmt, in einem Hochsicherheitskonvoi befördert werden muss." Unter den tausenden Menschen, die in Malmö mitunter einschlägige Hetzparolen skandierten, war auch Malena Ernman, Greta Thunbergs Mutter, die 2009 beim ESC in Russland für Schweden antrat und das "trotz extrem homophober Stimmung in der russischen Hauptstadt, wo am Tag des Song Contests zuvor ein kleiner CSD brutal zerschlagen wurde und trotz schon damals repressiver Politik des russischen Präsidenten kein politisches Boykottwort verlor. Ernman war es nun, die die in Schweden die Künstlerinitiative beförderte, Israel auszuschließen." Außerdem gibt Feddersen in der taz seine Tipps zum Endergebnis ab.

Thomas Ribi (NZZ) hält die Bilder auf Malmö aus den letzten Tagen für "traurig. Und in dieser Form beispiellos. Nur, politische Nebentöne gehören zum ESC, seit es ihn gibt", auch wenn sich die Veranstaltung stets anders darzustellen versuchte. "Unpolitisch war der Eurovision Song Contest nie. Aber jetzt ist er zur antiisraelischen Kundgebung geworden." Alex Rühle liefert in der SZ ein Stimmungsbild aus Malmö seit dem 7. Oktober: Zu Ausschreitungen gegenüber jüdischen Einrichtungen sei es zwar nicht gekommen, doch das vor dem Terrorakt bestehende "institutionelle Miteinander zwischen den Gruppierungen ist zusammengebrochen". Und Peter-Philipp Schmitt stellt in der digitalen FAZ-Beilage "Bilder und Zeiten" den Schweden Alexandro Kröger vor, der seit vielen Jahren den ESC mit Lego nachstellt.

Themenwechsel: Wer die aktuelle Popmusik im Niedergang begriffen sieht, weil Hits aus den Achtzigern auch heute noch oft aus dem Stegreif mitsingbar sind und nach Epoche klingen, was sich vom Großteil der Popmusik der Gegenwart in ein paar Jahren wahrscheinlich nicht behaupten lassen wird, hat einfach nur nicht begriffen, welchem Wandel Pop seit Jahren unterworfen ist, schreibt Joachim Hentschel in der SZ: "In Wahrheit haben sich spätestens seit den Neunzigern nun mal völlig neue ästhetische Quellen, Wurzeln und Hörgewohnheiten etabliert. Neue Abspielgeräte, Verhaltensmuster, Öffentlichkeiten, und wer weiß, was sonst noch alles. Überhaupt: eine andere Funktion, die Pop als Spiegel- und Transportmedium für Ideen erfüllt. ... Songtexte stehen - wie im Rap - stärker im Vordergrund, fungieren oft wie Hörbücher, Rätselspiele, zitierfähige Gesinnungsfibeln."

Weitere Artikel: Manuel Brug porträtiert für die WamS den französischen Geiger Renaud Capuçon. Martin Scholz plaudert für die WamS mit dem Rocksänger Caleb Followill von der Band Kings of Leon.

Besprochen werden  ein Konzert von Igor Levit (NZZ), Shabakas "Perceive Its Beauty, Acknowledge Its Grace" (FR). Mdou Moctars Album "Funeral for Justice" (taz), Ana Lua Caianos Debütalbum (taz), eine Wiederveröffentlichung von Agustín Pereyra Lucenas Debütalbum von 1970 (taz), das Album "Tëdd Ak Mame Coumba Lamba Ak Mame Coumba Mbang" der Band Ndox Electrique (taz), das neue Soloalbum der Portishead-Sängerin Beth Gibbons (WamS) und die tolle Compilation "Congo Funk!" mit ziemlich mitreißenden Aufnahmen aus den Sechzigern bis Achtzigern aus Kinshasa und Brazzaville (taz). Hier das erste Stück:

Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.05.2024 - Musik

Der European Song Contest (ESC) begleitet uns in diesem Jahr über mehrere Tage. Gestern lief das zweite Halbfinale ab, bei dem auch die israelische Sängerin Eden Golan, gegen deren Präsenz es viele Proteste gab, auftrat - sie wird auch im morgigen Finale singen. In einem dpa-Ticker etwa bei Spiegel online heißt es: "Auf Plakaten forderten die Demonstranten einen Boykott Israels und bezeichneten das israelische Vorgehen im Gazastreifen als 'Genozid'. Außerdem kritisierten die Demonstranten die Europäische Rundfunkunion EBU, weil Russland nach dem Angriff auf die Ukraine vom ESC ausgeschlossen wurde, Israel aber ungeachtet seines Vorgehens im Gazastreifen nicht."

Die Proteste, an denen auch Greta Thunberg teilnahm,  fanden direkt unter Eden Golans Hotelzimmer statt und sahen so aus:


Was für ein bitterer Verlust: Steve Albini ist viel zu früh im Alter von 61 Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Als Produzent pflegte er einen rohen, ungeschliffenen, wiedererkennbar sandigen Sound - zum Grausen der Plattenfirma wählten Nirvana bewusst sein Studio, um ihr drittes Album aufzunehmen (darüber fachsimpelte er noch vor einem halben Jahr mit den verbliebenen Nirvana-Musikern im Podcast von Conan O'Brien). Als Musiker in stilprägenden Bands wie Big Black und zuletzt Shellac (deren Comeback-Album seit Langem für nächste Woche angekündigt ist) erwies er sich als "eine Figur von sturer Integrität, die Werte hochhielt, die ihm Punk gelehrt hatte", wie Karl Fluch im Standard schreibt. Oder kurz: Kaum ein Zweiter hat er den Indierock seit den Achtzigern und bis heute geprägt, darin sind sich alle Nachrufe einig. "Sprödheit war Zündfunke von allem, was Steve Albini gemacht hat", schreibt Julian Weber in der taz. "Reduktion in der Wahl der musikalischen Mittel, Drastik beim Aussprechen von Tabus in den Songtexten."

"Albini vermied es häufig, allzu sehr in die Sounds der Bands einzugreifen", schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel. "Was die Musikindustrie anbetrifft, war er ähnlich wie Ian McKaye von Fugazi oder Henry Rollins einer deren schärfsten Kritiker, in vordigitalen Zeiten, erst recht in digitalen. Konsequenterweise nahm er für seine Produktionsarbeit stets nur ein Honorar und ließ sich nicht an Plattenverkäufen beteiligen. Was er als Musiker und mit seinem Studio in Chicago nur unzureichend verdiente, holte er übrigens in seinem Nebenleben als professioneller Pokerspieler wieder herein." Für Furore sorgte Albini in den Neunzigern mit seinem Essay "The Problem with Music", in dem er mit der Industrie nach Strich und Faden abrechnete.

Andre Boße beschreibt auf Zeit Online den Albini-Sound: "Die Musik wirkte, als stünde das Schlagzeug unmittelbar an den Membranen der Boxen, als passe zwischen dem Mund und dem Mikro kein Blatt Papier, als sei der Bass das Zentrum des Universums, und als seien die Gitarren explodierende Sterne. Musik am Anschlag. Und trotzdem im Gleichgewicht." Sehr schön ist diese halbe Stunde auf Youtube, in der Albini durch sein legendäres Tonstudio führt.



Weitere Artikel: Lotte Thaler berichtet in der FAZ von den Wittener Kammermusiktagen. Lena Karger hält in der Welt den Palästina-Song des Rappers Macklemore für platt, aber "gefährlich". Im Standard findet es Ljubiša Tošić soweit ganz gut, dass der ESC darauf pocht, Politik außen vor zu lassen. Wio Groeger bietet in der taz ein Stimmungsbild aus Malmö vor dem ESC. Joachim Hentschel plaudert für die SZ mit Schlagersängerin Bonnie Tyler. Konstantin Nowotny blickt im Freitag aufs (moderate) Kassetten-Revival. Marco Schreuder hört für den Standard Abbas "Waterloo", das vor 50 Jahren beim ESC gewonnen hat. Heide Rampetzreiter meldet in der Presse, dass eine der längsten und populärsten Internet-Fahndungen nach einem (bislang auch nur als kleiner Ausschnitt vorliegendem) Musikstück unbekannter Herkunft letzten Endes doch von Erfolg gekrönt wurde: Das betreffende Stück wurde nun als Begleitmusik zu einem explizit an Erwachsene gerichteten Film aus den Achtzigern entdeckt. Hier ein Mitschnitt der Tonspur aus dem betreffenden Film, inklusive einschlägigem Ambiente:



Besprochen werden die von Kent Nagano dirigierte Uraufführung von Vladimir Tarnopolskis "Im Dunkel vor der Dämmerung" in der Elbphilharmonie (FAZ), ein Konzert von Nina Chuba (Presse), das neue Album von Dua Lipa (Standard) und eine Box mit Aufnahmen des Jazz-Rockers Jack Bruce aus den Jahren 1970 bis 2001 (taz). Darunter findet sich auch eine Aufnahme der Session von Bruce' Gruppe The Tony Williams Lifetime, die für Radio Bremens Beat Club entstanden ist und damals von der Band abgebrochen wurde. Die Aufnahmen wurden überhaupt erst vor wenigen Monaten auf dem (ohnehin sehr verdienstvollen) Youtube-Kanal des Beat Club veröffentlicht:

Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.05.2024 - Musik

"Justice sind zurück. Endlich." So jubelt SZ-Popkritiker Jakob Biazza über "Hyperdrama", das erste neue Album des französischen Electro-Duos seit acht Jahren, das so irgendwie zwar schon in die French-House-Ecke passt, aber "dabei immer diesen absolut grandiosen Hard-Rock-Angang an ihre Musik hatte. Frachtschiff-große Poser-Attitüde, rostige, scharfkantige Synkopen, Brian-May-orchestrale Synthesizer-Backsteinwände. Electro für Menschen, die Electro hassen. In ihren wahnwitzigeren, also den konstant fantastischen Momenten, klangen Justice, als wären Daft Punk von Led-Zeppelin-Schlagzeuger John Bonham zu einem völlig ehrenlosen Wettsaufen herausgefordert worden, das sie zwar gewonnen, aber mit einem längeren Aufenthalt auf der Intensivstation bezahlt haben. Und um die Krankenhausrechnung zu bezahlen, vertonten sie dann eben ihre Koma-Albträume."



Weitere Artikel: Magnus Klaue rettet im Jungle-World-Essay im Elfenbeinturm verpönte Instrumente wie das Akkordeon und die Blockflöte vor ihren Kritikern: "In ihnen wird das Hamsterrad, dessen monotones Quietschen in schlechter Musik von einer Abwechslung übertönt wird, die keine ist, in seiner ganzen Gewalt erfahrbar." Für den "Kultursommer" der Zeit porträtiert Hannah Schmidt die schwedische Komponistin Lisa Streich. Die Welt hat hier Axel Brüggemanns Text aus dem Arte-Magazin über Beethovens Neunte online nachgereicht und dort die Gedanken des Justizministers Marco Buschmann zur Sinfonie, die gestern vor 200 Jahren uraufgeführt wurde (hier dazu mehr). Marco Schreuder (Standard), Philippe Zweifel (TA) und Klemens Patek (Presse) berichten vom Halbfinale des ESC. Andrey Arnold trauert in der Presse derweil über die verlorene Unschuld des ESC. Einen letzten Platz hätte der deutsche Eurovision-Kandidat Isaak (hier sein Song) nicht verdient, findet Nadine Lange im Tagesspiegel. Standard-Popkritiker Christian Schachinger ist gespannt auf Peaches' "Jesus Christ Superstar"-Konzert heute Abend im Wien. Wolfgang Sandner schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Jazz-Arrangeur Bill Holman.

Besprochen werden Konzerte von Daniil Trifonov und Ivo Pogorelich in Zürich (NZZ), ein Auftritt von Chilly Gonzales in Frankfurt (FR), ein Konzert von Bilderbuch (Presse) und das neue Soloalbum der Portishead-Sängerin Beth Gibbons ("Wie am Beginn ihrer Karriere wirkt sie ganz aus der Zeit gefallen und gerade darin hochgegenwärtig", schwärmt Jens Balzer in der Zeit). Wir hören rein:

Stichwörter: Justice, Electro, French House, Esc

Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.05.2024 - Musik

Heute vor 200 Jahren wurde in Wien Beethovens Neunte uraufgeführt. Dass deren Schlusssatz heute als musikhistorische Zäsur im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, hat - nicht zuletzt wegen der Europäischen Union, deren Hymne er seit 1972 ist - zwar seine Berechtigung, schreibt Christian Wildhagen in der NZZ. Doch "seinerzeit müssen auch die ersten drei Sätze beispiellos avantgardistisch gewirkt haben, zumal vor dem Horizont einer Epoche, die gerade einem kollektiven Belcanto- und Rossini-Rausch verfallen war. ... Bevor in diesem vierten Satz die Singstimmen einsetzen, hat Beethoven gut fünfzig Minuten lang rein instrumental mit sich, mit Gott und der Welt gerungen. Am Beginn des Finales kommt es zu einer katastrophischen Zuspitzung, zur sogenannten Schreckensfanfare, die er mit den stärksten Dissonanzen würzt, die in der Spätklassik möglich waren. Zunächst antworten nur die tiefen Streicher auf diese Eruption: mit aufbegehrenden Gesten, dann mit einer leisen Ahnung der späteren Freudenmelodie. Der Durchbruch gelingt noch nicht. Als bald darauf die Schreckensfanfare ein weiteres Mal ertönt, betritt der Mensch die imaginäre Szenerie. Mit dem sprichwörtlich gewordenen Ausruf 'O Freunde, nicht diese Töne!', der von Beethoven selbst, nicht von Schiller stammt, verwirft der Bariton-Solist gleichsam die gesamte zuvor gehörte Musik. Der Chor stimmt ein, und jäh ist der Weg frei für die alle Negation hinwegfegende Freudenhymne." Die FAZ hat ihr Gespräch mit dem Dirigenten Antonello Manacorda über die Neunte online nachgereicht. Mehr zur Neunten schreibt Ljubiša Tošić im Standard. Judith von Sternburg weist in der FR darauf hin, dass Arte heute Abend die Neunte in einer besonderen Version überträgt: In je einer deutschen Stadt wird von je einem Orchester je ein Satz gespielt.

Für die Zeit porträtiert Timo Posselt den Popstar Nemo, der für die Schweiz zum Eurovision Song Contest fährt (mit diesem ziemlich beeindruckenden Stück). Schon 2016 hat er als Rapper in seiner Heimat für viel Aufsehen gesorgt. Bei einem Turnier haute er alle um und das "mit Wollmütze und mindestens einen Kopf kleiner als alle anderen. ... Der Beat droppt, Nemo beginnt zu rappen - und nacheinander fällt den Umstehenden die Kinnlade herunter. 'Es ging uns allen gleich', erzählt Pablo Voegtli, der Moderator von Bounce und so etwas wie der Hohepriester des Schweizer Hip-Hops, am Telefon: 'Wir dachten alle: Holy fuck, dieses Kid ist insane!' Ein Talent wie Nemo, so Voegtli, gebe es im Schweizer Rap bloß alle paar Jahre. 'Rhythmisch ist Nemo ein Monster. Diese Präzision, dieser Flow, diese Dringlichkeit, dieses Spiel mit der Stimme - ein perfekter Sturm. Ich dachte: Wenn jemand jetzt schon so gut ist, kann die Person musikalisch alles erreichen.'" Auf Youtube kann man sich das ansehen:



Außerdem: Benjamin Moldenhauer berichtet in der taz von einem Abend zum Gedenken an die vor drei Jahren verstorbene Françoise Cactus, die dieser Tage sechzig Jahre alt geworden wäre. Skeptisch reagiert Nadine Lange in ihrer Tagesspiegel-Popkolumne auf die Pläne der britischen Popkünstlerin FKA Twigs, die lästige Promoarbeiten künftig an einen eigens geschulten Deepfake-KI-Klon ihrer selbst delegieren will: Dieser "Vorstoß ist die konsequente Fortsetzung solcher Praktiken, in denen die Presse sowieso nur noch als Marketinginstrument betrachtet wird". Thorsten Fuchshuber spricht für die Jungle World mit dem Metal-Schlagzeuger T. J. Childers von der Band Inter Arma. Für die FAZ plauscht Tilman Spreckelsen mit Reinhard Mey über dessen neues Album. Karl Fluch gibt im Standard einen Überblick über die Vorwürfe sexueller Übergriffe, die dem Rapper Puff Daddy gemacht werden. Daniel Haas blickt für die NZZ derweil auf die eskalierende Fehde zwischen den Rappern Drake und Kendrick Lamar.

Besprochen werden ein von Elena Schwarz dirigierties Konzert des Klangforums Wien mit Werken von Georges Aperghis und Stefano Gervasoni (Standard),Stefan Karl Schmids, Lars Dupplers und Hilmar Jenssons gemeinsames Album "Bliður" (FR) und das postume Album "Looking for Daniel" von Phill Niblock mit zwei langen Drone-Kompositionen (tazlerin Yelizaveta Landenberger bezeugt "einen würdigen Abschluss für das Gesamtwerk eines großen Avantgardisten").

Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.05.2024 - Musik

Das schwedische Malmö gilt "als Stadt der Bandenkriminalität und hat eine große palästinensische Community", schreibt Marco Schreuder im Standard. Dass dort kommenden Samstag der Eurovision Song Contest ausgetragen wird, sorgt im jüdischen Teil der Bevölkerung für Sorgen, erfahren wir weiter: "Es wäre für uns besser gewesen, der Song Contest würde nicht hier stattfinden", zitiert Scheuder Fredrik Sieradzki, den Sprecher der jüdischen Gemeinde Malmö. "Er fürchtet Übergriffe gegen Juden und Jüdinnen bei Demonstrationen gegen die israelische Teilnahme. Vor allem aber sorgt er sich um Fans, die aus Israel mit Fahnen anreisen werden. 'Wir empfehlen seit dem 7. Oktober 2023 unseren Gemeindemitgliedern, ohne jüdische Symbole auf die Straße zu gehen.' Für den israelischen Song-Contest-Experten und Buchautor Alon Amir ist Malmö der schlechtestmögliche Austragungsort. Amir, selbst früher Mitglied der israelischen Delegation, kritisiert die EBU, den europäischen Dachverband der öffentlich-rechtlichen Sender, scharf: 'Es ist unverantwortlich. Malmö ist keine sichere Stadt', sagt er."

Nicholas Potter spricht für den Tagesspiegel mit Yaron Trax, der bis 2022 in Tel Aviv den angesagten Club "The Block" betrieben hat - wegen Problemen mit dem Vermieter musste er schließen. Aber auch von außerhalb Israels wurde dem Club, der auch in der arabischen Community Israels sehr beliebt war, das Leben schwer gemacht: "Bis 2017 wurden wir als Club international gefeiert, Szenemagazine wie Mixmag oder Resident Advisor schrieben große Features über uns. Wir gewannen Preise. Und dann wurde es plötzlich ganz still." Trax denkt, "dass sie wussten: Wenn sie weiter über uns schreiben, werden sie dafür kritisiert oder könnten Fans verlieren. ... Das zählt auch für viele DJs, die nicht mehr in Israel spielen wollen - aus Angst, dass andere in der Szene, die vielleicht in der Tat antisemitisch und oft auch aggressiv sind, sie dafür anfeinden werden. Es gibt eine starke Cancel Culture in der Szene, viele wollen bloß nicht selbst boykottiert werden. Auch DJs, die tatsächlich in Tel Aviv auflegen, posten in den sozialen Medien in der Regel dazu nichts."

Außerdem: Axel Brüggemann spricht für Backstage Classical mit Olaf Maninger, Solocellist der Berliner Philharmoniker, über das eben absolvierte Europakonzert seines Orchesters in Georgien (mehr dazu hier). Yulia Valova spricht für den Tagesspiegel mit Alyona Alyona und Jerry Heil, die beim ESC am kommenden Samstag für die Ukraine antreten. Auf Zeit Online erinnert Katrin M. Kämpf an Françoise Cactus, die gestern 60 Jahre alt geworden wäre. Die FAS hat Elena Witzecks Bericht von ihrer Begegnung mit der österreichischen Schrammelrockband Endless Wellness online nachgereicht.



Besprochen werden ein Philip-Glass-Abend mit dem Berliner Konzerthausorchester (BLZ), ein Auftritt vom J Balvin in Wien (Presse) und das neue Album "Radical Optimism" von Dua Lipa (taz, mehr dazu hier).