Salman Rushdie hat am Deutschen Theater Berlin, von Beifall umtost, sein neues Buch "Knife" vorgestellt, das den Anschlag auf sein Leben im Jahr 2022 literarisch aufarbeitet. Entspannt tritt der Autor vor sein Publikum, freut sich Andreas Kilb in der FAZ. Und dennoch: "Das Buch trägt die Spuren des Todes, dem Rushdie knapp entgangen ist, und wer genau hinschaut, kann diese Spuren auch in seinem Gesicht erkennen, das nicht nur älter, sondern starrer wirkt, und in seiner rechten Hand, die steifer gestikuliert als die linke. Und man kann nicht aufhören hinzuschauen an diesem Abend im Deutschen Theater. Denn Rushdie ist mehr als ein Schriftsteller, gegen den vor 35 Jahren ein Todesurteil islamistischer Fanatiker erging, das nie widerrufen wurde; er ist, spätestens seit dem Attentat von Chautauqua, ein Symbol der westlichen Welt." Für den Tagesspiegel besucht Gerrit Bartels das Rushdie-Event, für dietaz Julia Hubernagl, für die SZ Sonja Zekri.
Mit "wrong" und "Lapidarium. Stücke." erscheinen, nach langer Pause, gleich zwei neue Rainald-Goetz-Bücher. Ersteres versammelt Texte der letzten Jahre, letzteres, dem Titel entsprechend, Arbeiten für die Bühne. Kein gutes Haar lässt in der FAS Julia Encke insbesondere an "wrong". Neben vielem anderen bringt sie ein dort enthaltendes Gespräch mit Moritz von Uslar über Journalismus auf die Palme: "Dass in diesem Gespräch, in dem es um den Beruf des Redakteurs in der Gegenwart, um das Zeitungsmachen heute geht, das Wort 'Online' genauso wenig vorkommt wie die sich permanent verändernden Produktionsbedingungen in Redaktionen oder die Bedeutung von 'Conversions', also von Aboabschlüssen für digitale Artikel, zeigt aber, dass es sich dann doch nur um die Oldtimer-Fabrik handelt. Dass es darum geht, Western-von-gestern-haft eine Vergangenheit zu beschwören. Und einander zu gut zu finden." In der Welt stellen mehrere Autoren anlässlich der beiden Veröffentlichungen ein kleines Rainald-Goetz-Lexikon zusammen.
Ganz koscher ist das Vorgehen von Juliane Liebert und Ronya Othmann nicht, gesteht Dirk Knipphals in der taz ein. Die beiden Autorinnen hatten Interna aus der Jurysitzung zum Internationalen Literaturpreis in der Zeit zur Sprache gebracht (siehe hier; zu weiteren Reaktionen siehe hier). Gleichwohl ist das Thema, findet Knipphals, durchaus der Rede Wert: Die Art, wie in Lieberts und Othmanns Darstellung Identitätspolitik und Literatur gegeneinander ausgespielt wurden, "beschädigt nun aber tatsächlich, man muss es aussprechen, die Reputation des Internationalen Literaturpreises, der eben kein Förderprogramm für Übersetzungen und Diversität sein soll, sondern ein ernsthafter Literaturpreis. Dann muss in der Jury aber auch ernsthaft literarisch, also am Text diskutiert werden, wie das - wie einem ehemalige Juroren jetzt stecken - zuvor bei anderen Juryzusammensetzungen auch der Fall gewesen sein soll. (...) Für ein ernsthaftes Abwägen von Für und Wider vollkommen unterschiedlicher Literaturbegriffe und Romantraditionen wäre nämlich gerade ein Internationaler Literaturpreis der richtige Ort. Insofern hat die Jury schlicht ihre Aufgabe verfehlt." Insa Wilke hingegen zieht im Freitag über Liebert und Othman her: "ein ungeheuerlicher Vertrauensbruch".
Außerdem: Die SZ druckt Elfriede Jelineks Rede zum Auftakt der Wiener Festwochen ab. Michael Schischkin beschäftigt sich in der FAZ mit Anton Tschechow. Tobias Lehmkuhl gräbt, ebenfalls in der FAZ, einen verfrühten Nachruf auf Erich Kästner aus, der 1942 in Palästina verfasst wurde. Die FAS stellt vier Fragen an die Autorin Theresia Enzensberger. Mathias Mayer widmet sich in der FAZHilde Domins Gedicht "Zwei Türen". Andrea Pollmeier besucht für die FR das Frankfurter Literaturm-Festival. Leander Berger berichtet in der FAZ vom der Verleihung des Hebelpreises an den Schriftsteller Pierre Kretz. Die NZZbringt einen Text des Schriftstellers Michael Köhlmeier über seine Familiengeschichte.
Besprochen werden unter anderem Paula Irmschlers "Alles immer wegen damals" (taz) und Uri Jitzchak Katz' "Aus dem Nichts kommt die Flut" (SZ).
In der FAZ ist Andreas Platthaus stinksauer über den Text von Juliane Liebert und Ronya Othmann, die peinliche Jury-Interna bei der Vergabe des Internationalen Literaturpreises des Berliner Hauses der Kulturen der Welt bekannt gegeben haben (unser Resümee). Inhaltlich argumentiert Platthaus nicht, als Skandal und Tabubruch empfindet er aber die Verletzung des Jurygeheimnisses. "Ungeachtet dessen, dass die beiden Whistleblowerinnen recht haben, wenn sie auf Einhaltung der Kriterien und den Primat literarischer Qualität pochen. Aber das hätten sie ja auch so unkonkret beschreiben können, wie es ihnen offenbar aus anderen Jurys zugetragen wurde. Stattdessen verschweigen sie zwar die Namen der fünf anderen Juroren (die natürlich sofort im Netz auffindbar sind), referieren aber deren Argumente für und wider einzelne Bücher, bei denen es teilweise ad personam ging, schädigen also neben der eigenen Jury auch noch Autoren. Bei der Beurteilung literarischer Qualität sind Form und Inhalt zu berücksichtigen - im Artikel von Liebert und Othmann ist der Inhalt brisant, aber die Form verfehlt."
Wir sind alle "Nutznießer von Identitätspolitik", ruft Nele Pollatschek in der SZRonya Othmann und Juliane Liebert entgegen, die die Preisvergabekriterien des HKW kritisiert hatten: "Ihr habt schon mitgedacht, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass eure Teilnahme in dieser Jury - die aus sieben Menschen bestand, von denen kein einziger ein deutscher Durchschnittsmann war - gänzlich ohne die Zuhilfenahme identitätspolitischer Kriterien vonstattenging. (...) Natürlich sind Liebert und Othmann geschlechtsunabhängig qualifiziert für eine Literaturpreis-Jury, einfach weil sie Bücher und Artikel (auch für die SZ) geschrieben haben. Aber natürlich wäre es ohne irgendeine Form der Identitätspolitik in den vergangenen 200 Jahren unwahrscheinlich, dass sie diese Qualifikationen hätten erwerben können. Wer die heute als Frau vorweisen kann, ist identitätspolitischen Aktivisten (Sufragetten, Utilitaristen und Liberalen, später Feministinnen) zu Dank verpflichtet." Das Haus der Kulturen hat die Kritik von Othmann und Liebert inzwischen zurückgewiesen, meldetZeit online.
Der hierzulande plötzlich umstrittene Otfried Preußler wurde in seiner Heimatstadt, dem tschechischen Liberec, postum mit einer Medaille ausgezeichnet, berichtet Tilman Spreckelsen in der FAZ. Ihn hat nicht nur beeindruckt, dass bei der Verleihung das Leid der deutschen Vertriebenen ganz selbstverständlich anerkannt wurde. "Die Ehrung steht auch im harten Kontrast zu der Diskussion um Preußler in Deutschland, wo ein bisher nach ihm benanntes Gymnasium im bayerischen Pullach lieber nicht mehr so heißen möchte und zur Begründung anführt, der Autor habe sich nicht genügend von seiner NS-Vergangenheit distanziert und außerdem in seinem Werk Konflikte durch Zauberei und Gewalt gelöst. Mit dem kuriosen zweiten Argument hielt man sich in Liberec nicht weiter auf. Zur Frage der NS-Vergangenheit sagte Anna Knechtel vom Adalbert Stifter Verein München in ihrer Ansprache, sie beeindrucke gerade Preußlers 'Art, wie er sich über seine eigenen Fehler klar geworden ist. Krieg und mehrjährige Zwangsarbeit haben ihm die Augen geöffnet über das Dunkle, in das er hineingeraten war, als er als Jugendlicher Anhänger der NS-Ideologie war und begeistert in einen Vernichtungskrieg zog.'"
Weiteres: In der SZ schreibt Eckhart Nickel zu Kafka. Ebenfalls in der SZ erinnert Viktoria Großmann an die im KZ Ravensbrück ermordete Journalistin Milena Jesenská - Kafkas große Liebe. Lothar Müller (SZ) berichtet von der Crowdfunding-Kampagne des Merlin-Verlags, um den letzten Band der gesammelten Werke von Jean Genet herauszugeben. Die Schweizerin Fleur Jaeggy darf sich über den mit 30.000 Franken dotierten Gottfried-Keller-Preis freuen, die japanisch-österreichische Autorin Milena Michiko Flasar erhält den Evangelischen Buchpreis mit einer Dotierung von 5000 Euro, berichtet die FR. Im Tagesspiegel berichtet Gerrit Bartels von der Premiere von "Knife" im Deutschen Theater, bei der Salman Rushdie erzählte, warum er kaum anders konnte, als über das Attentat ein Buch zu schreiben. Besprochen werden u.a. Rocko Schamonis neuer Roman "Pudels Kern" (taz) und Ron Leshems Buch "Feuer. Israel und der 7. Oktober" (Welt).
Juliane Liebert und Ronya Othmann erzählen in der Zeit komplett aus allen Wolken gefallen von den loriot-artigen Bizarrerien, derer sie vergangenes Jahr als Mitglieder der Jury für den Internationalen Literaturpreis des HKWBerlin Zeuginnen wurden. Nur ein kleiner Ausschnitt, der eine ganze Kaskade von Clownerien nach sich zog, die nicht nur die Arbeit der Jury selbst in Zweifel stellt, sondern auch die finale Auszeichnung von MohamedMbougarSarr durchaus infrage stellt (unter anderem wurde hier am Ende noch darüber diskutiert, ob es dem weißen Übersetzer denn überhaupt zustehe, das von Sarr aus Gründen der historischen Authentizität platzierte N-Wort zu verwenden): Beim Erstellen der Shortlist debattierte man zwar noch literarisch und war sich zunächst über das Ergebnis sehr einig, "doch eine Jurorin war damit nicht einverstanden. Sie sagte, sie könne nicht damit leben, dass unter den Büchern mit jeweils zwei Punkten drei schwarze Frauen seien, die nun herausflögen, während eine weiße Französin (MarietteNavarro) in die Shortlist aufgenommen werde. Sie würde deswegen ihre Stimme von Navarro zurückziehen. ... Die Mehrzahl der Jurymitglieder, die nun erfolgreich 'die weiße Französin', die zuvor eine Favoritin war, abgewählt hatte, musste sich entscheiden, welche der Zwei-Punkte-Autorinnen stattdessen auf die Liste sollte. Die Wahl fiel auf CherieJones, deren Buch vorher einige als 'Gewaltporno' und 'netflixstyle' abgelehnt hatten. Aber es gab noch einen vierten Autor mit zwei Stimmen: Péter Nádas. Sein Buch hatte die Jury zuvor als Meisterwerk gehandelt. Plötzlich befand sich die Jury in einer Diskussion, welches der beiden Bücher die geschasste Französin ersetzen solle. Von mehreren Juroren wurde beteuert, PéterNádas habe mit 'Schauergeschichten' ohne Zweifel das beste Buch geschrieben. Aber Nádas sei nun mal ein vom Feuilleton geliebter, privilegierterweißerAutor."
Außerdem: Im Welt-Interview schildert der SchriftstellerGaryShteyngart gegenüber Hannes Stein, was er auf einer Kreuzfahrt, die er im Auftrag des Atlantic genommen hatte, alles erdulden musste - schon die Gestalt des Schiffes machte ihn unglücklich: "Hier ist jede Form ertränkt in einem Meer der Idiotie." Frank Keil erzählt in der taz von seiner Begegnung mit der Schriftstellerin ZaraZerbe. In seiner Kraus-Reihe im Standardschreibt Ronald Pohl über KarlKraus' Abscheu vor den Nationalsozialisten. Nachrufe auf die LiteraturnobelpreisträgerinAliceMunro schreiben Katrin Bettina Müller (taz) und Elmar Krekeler (Welt). Weitere Nachrufe auf Munro bereits hier.
Besprochen werden unter anderem AliaTrabuccoZeráns "Mein Name ist Estela" (ZeitOnline), Matthias Heines "Kluge Wörter" (NZZ), CarolineWahls "Windstärke 17" (FAZ), W. DanielWilsons "Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft" (SZ) und KarlOve Knausgårds "Das dritte Königreich" (Zeit). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Die SchriftstellerinAliceMunro ist tot. 2013 erhielt sie zur allgemeinen Begeisterung der Feuilletons für ihre Kurzgeschichten den Literaturnobelpreis (unsere Resümees, damals noch nach Zeitungen gegliedert). Ihr vor allem in ihrer Heimat Ontario spielendes Werk stellt ein Wunder dar, hält Angela Schader in der NZZ fest und blickt zurück auf "ein Œuvre, das so streng wie gelassen auf einen nicht eben strahlkräftigen Lebensraum fokussiert und auf Existenzen, die in der Regel mindestens in dem Maß beschnitten werden, wie sie wachsen wollen. ... Den Beschränkungen, welche die Lebensumstände ihren Figuren auferlegen oder die sie aus innerer Trägheit selbst suchen, setzte Alice Munro - und hier liegt das eigentliche Mysterium ihrer Erzählkunst - die kühne Offenheit der Form entgegen. Ihr Schreiben entfernte sich zunehmend vom klassischen Modell der Short Story, das eine weitgehend geschlossene, auf den pointierten Schluss hin fokussierte Handlung vorsieht. Stattdessen arbeitete sie mit raumgreifendenZeitsprüngen, band innerhalb einzelner Erzählungen scheinbar disparate Handlungselemente durch motivische oder thematische Parallelen ein."
Meike Fessmann blickt in der SZ darauf zurück, wie Munro die Kurzgeschichte auf ein komplett neues Niveau gehoben hat: "Sie machte sie länger und komplexer. Bis dahin galt das Ideal, sie sollte kurz und knackig sein. Munro aber entdeckte, wie viel Leben man darin unterbringen kann, ohne die Regel der Knappheit zu verletzen. ... Die Figuren leuchten in der ganzen Pracht ihrer Einzigartigkeit. Sie sind besonders, auch wenn sie ein ganz normales Leben führen, wenn sie sich durch scheiternde Ehen quälen, den Faden einer alten Liebe aufnehmen, als Dienstmädchen arbeiten, Lehrer-Existenzen in Kleinstädten führen oder von Krankheiten gequält werden. Alice Munro wollte immer beides: den Überblick und die Nahsicht." Ihre Spezialität war "die erhabene Schäbigkeit und Kleinteiligkeit weiblicher Lebensläufe, in die sie tief eintauchte, ohne an ihnen rumzupolieren, um sie in ihren Storys zum Leuchten zu bringen", schreibt Iris Radisch auf ZeitOnline. Weitere Nachrufe schreiben Judith von Sternburg (FR), Michael Wurmitzer (Standard) und Andreas Platthaus (FAZ). Hier Munros Profil beim NewYorker, der zahlreiche ihrer Geschichten veröffentlicht hat. Alle deutschen Übersetzungen finden Sie bei Eichendorff21.
Weitere Artikel: In der SZ schreibt DursGrünbein über Kafka. Besprochen werden unter anderem Sandra Newmans "Das Verschwinden" (NZZ), Julia Josts "Wo der spitzeste Zahn der Karawanken ..." (FR), die deutsche Erstausgabe von ZeruyaShalevs 30 Jahre altem Debütroman "Nicht ich" (FAZ) und ArisFioretos' "Die dünnen Götter" (SZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Der SchriftstellerArminKratzert hält in der SZ wenig davon, Kafkas Werke biografisch zu lesen: "Er war ein sehr aktiver, ganz moderner Mensch mit Hoffnungen, Ängsten und Zweifeln, mit Sinnlichkeit, NeugierundLebenslust." In der Bibliothek der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen wurden 27 Bücher entdeckt, die aus der Bibliothek der GebrüderGrimm stammen, meldet Tilman Spreckelsen in der FAZ. Claus-Jürgen Göpfert (FR) und Hannes Hintermeier (FAZ) gratulieren dem Verleger KlausSchöffling zum 70. Geburtstag. Für die Welt hat StephanWackwitzaufgeschrieben, welche Bücher ihn geprägt haben.
Besprochen werden unter anderem Friedrich Anis Krimi "Lichtjahre im Dunkel" (FR), YanLiankes "Der Tag, an dem die Sonne starb" (NZZ), MirandaJulys "Auf allen vieren" (SZ) und G. E. Trevelyans "Appius und Virginia" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Die FAZ veröffentlicht mit "Rippenquallen" ein neues Gedicht von DursGrünbein:
"Ein weicher Glaskörper, Geleestück mit einem ersten Knochengerüst, als hätte sie einen Kamm verschluckt ..."
Martina Läubli spricht für die NZZ mit der Literaturwissenschaftlerin MelanieMöller über den Übergriff der Moral auf die Literatur. In der NZZversucht Paul Jandl dem Erfolg der SchriftstellerinJennyErpenbeck im nicht-deutschsprachigen Ausland auf den Grund zu gehen (mehr dazu bereits hier und dort). Die Zeit hat Carolin Würfels Gespräch mit dem SchriftstellerAndréKubiczek online nachgereicht. Michael Wurmitzer plaudert für den Standard mit T.C. Boyle, der gerade einen neuen Storyband veröffentlicht hat. Nadine A. Brügger berichtet in der FAZ von den SolothurnerLiteraturtagen. Bernhard Schulz spaziert für den Tagesspiegel durch Kafkas Prag. In der FAZgratuliert Andreas Platthaus dem SchriftstellerAdolfMuschg zum 90. Geburtstag. Außerdem gratuliert Platthaus der SchriftstellerinEvaDemski zum 80. Geburtstag. Der Standardbringt ein Gedicht von ClemensJ. Setz.
Besprochen werden MirandaJulys "Auf allen vieren" (Standard) und Luca Mael Milschs Debüt "Sieben Sekunden Luft" (Standard).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ralph Dutli über Arthur Rimbauds "Maibanner":
"an lichten Lindenzweigen stirbt kränklich ein Halali doch geistliche Gesänge hängen ..."
Paul Jandl hat in der NZZ endgültig genug vom literarischen Trend der Autofiktion: "In der Kunst ist alles möglich", aber alle wollen nur über "Selbsterfahrenes" schreiben. Was diese Romane "im Ästhetischen auszeichnet, ist ein blässlicher und uniformer Realismus, der der Wirklichkeit aber auch wirklich nichts schuldig bleiben will. ... Heute herrscht der von den Verkaufsabteilungen der Verlage oft selbst hergestellte Eindruck, dass zwischen den Autor und sein Werk kein Blatt passe. In Fragen der Authentizität reichen sich streberhaft wirkende Autorenlebensläufe und Verlagsmarketing die Hände. ... Romane sind Anverwandlungen der Wirklichkeit, Erinnerungen an Gewesenes und Erfindungen dessen, was gewesen sein könnte. Alles im Schatten möglicher Täuschungen und Selbsttäuschungen. Der autofiktionale Autor wird sich, wenn er nicht durch die Vorstellung verbiestert ist, im Besitz von Wahrheiten zu sein, diesem Spiel ausliefern."
Weitere Artikel: Fürs Kaput Magspricht Luca Glenzer mit Christof Meueler über dessen Wiglaf-Droste-Biografie. Ioannis Dimopulos schreibt im Freitag über Kafka. Sigrid Weigel erinnert in der digitalen "Bilder und Zeiten"-Beilage der FAZ an WalterBenjamins Reise nach Capri im Jahr 1924. Werner Völker schreibt in "Bilder und Zeiten" darüber, wie Goethe 50 Jahre nach dem Erscheinen des "jungen Werthers" von dem Buch eigentlich nichts mehr wissen wollte. Harry Nutt (BLZ) und Michael Martens (FAZ) schreiben zum Tod des SchriftstellersIvanIvanji.
Besprochen werden unter anderem AbdulrazakGurnahs "Das versteinerte Herz" (FR), TeréziaMoras Übersetzung von DénesKrusovszkys Erzählbandes "Das Land der Jungen" (taz), Bücher von der und über die SchriftstellerinGabrieleTergit (NZZ, FR), LauraLeupis Debütroman "Das Alphabet der sexualisierten Gewalt" (taz), Caroline Wahls "Windstärke 17" (SZ) und RonyaOthmanns "Vierundsiebzig" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Der islamistische Terroranschlag auf das Bataclan fordert auch weiterhin Todesopfer: Der französische Comiczeichner FredDewilde war damals einer der Überlebenden des Anschlags, verarbeitete diese Nacht in vielbeachteten Comics - und erlag nun doch seiner Traumatisierung. Nach neun Jahren hat er sich das Leben genommen. "Es gibt berührende Zeugnisse von Dewilde, in denen er schildert, wie ihm sein Leben abhandenkam, seine Leichtigkeit, seine Zuversicht, sein Umgang mit der Gesellschaft", schreibt Oliver Meiler in der SZ. "Arbeiten konnte er nicht mehr, das Erlebte lastete zu schwer auf seiner Psyche. 'Ich wachte jeden Morgen mit dem 13. auf, und jeden Abend ging ich mit dem 13. ins Bett.' ... So begann er, Comics zu zeichnen", als "Selbsttherapie, ein posttraumatisches Suchen nach Sinn in diesem Graben vor der Bühne des Bataclan. 'Mon Bataclan' kam 2016 heraus, weniger als ein Jahr nach der Nacht des Terrors, es war der erste Comic seines Lebens. Die Zeichnungen waren schwarz-weiß, dunkel, eindringlich. Zu Beginn publizierte er anonym. 'Ich hatte Angst, die Angreifer würden zurückkehren und ihren Job fertig machen.'"
In der Kafka-Serie der SZ erinnert sich der Schauspieler EdgarSelge daran, wie er einst als junger Mann seinem Vater Kafka zu lesen gab, was eher unerwartete Reaktionen nach sich zog: "Plötzlich, etwa nach einer knappen Stunde, höre ich einen albtraumartigen Schrei aus seinem Sessel." Doch dabei bleibt es nicht: "Von Mal zu Mal werden seine Schreie unwilliger. Plötzlich klappt er das Buch zu, steht auf und stellt angewidert fest: 'Man muss ja pervers sein, um sich so was auszudenken! Das ist doch völlig abartig, eine kranke Fantasie, das hält ja kein Mensch aus.'"
Weitere Artikel: In der FAZgratuliert Patrick Bahners dem SchriftstellerAlanBennett zum 90. Geburtstag. Jonas Engelmann schreibt in der Jungle World einen Nachruf auf PaulAuster (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden unter anderem der zweite Teil von Ilko-SaschaKowalczuks Biografie über WalterUlbricht (taz), Fred Vargas' Kriminalroman "Jenseits des Grabes" (FR) und Franziska AugsteinsChurchill-Biografie (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Hannes Hintermeier erzählt in der FAZ von seinem Besuch in der Ausstellung über FrederikeMayröckerin Wien. Ko-Kurator war Bernhard Fetz, der bereits zu Mayröckers Lebzeiten damit beauftragt war, die legendäre Zettelwirtschaft der 2021 gestorbenen Lyrikerin für den Nachlass zu schürfen. "Die Zimmer waren bis unter die Decke gefüllt mit Zetteln, die mit Wäscheklammern thematisch gebündelt und in Wäschekörben gestapelt waren. Diese Zettelhöhle war eine singuläre Herausforderung für Archivare." Die Ausstellung macht dieses "Schreibuniversum sinnlich erfahrbar. ... Mittels Virtual-Reality-Brillen kann man sich auf einen Rundgang durch die Schreibwohnung im Originalzustand begeben, ein 360-Grad-Sinneseindruck von unheimlicherPlastizität. Es handele sich vermutlich um einen der letzten komplett analogen Nachlässe, die hier erschlossen würden, sagt Fetz. Denn die Dichterin blieb bei ihren Reiseschreibmaschinen, bei Schallplatten, Tonbändern und Kassetten. KeinComputer, nirgends."
Weiteres: Oliver Meiler schreibt im Tagesanzeiger einen Nachruf auf den französischen Literaturkritiker BernardPivot (mehr zu dessen Tod bereits hier). Die Zeitbringt Paul Austers bereits vor einigen Jahren abgefasste Erinnerungen an die Zeit der Vietnamproteste an der ColumbiaUniversity, dem Brennpunkt der aktuellen Gaza-Proteste in den USA.
Besprochen werden unter anderem AlbertCohens "Oh, ihr Menschenbrüder" (Jungle World), EliškaBarteks "Und vor mir ein ganzes Leben" (SZ) eine Neuausgabe von IvanGončarovs Debüt "Die Schwere Not" aus dem Jahr 1838 (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Mit Fernsehberühmtheiten verhält es sich so, dass sie nur strikt im nationalen Rahmen funktionieren. In Deutschland weiß niemand, wer Bernard Pivot war, in Frankreich war er einer der berühmtesten Moderatoren, und das mit einer Literatursendung: "Apostrophes". Pivot ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Von bis 1975 bis 1990 liefen 724 Folgen der Sendung "Apostrophes", die einmal auch international für Aufsehen erregte - durch den Auftritt Alexander Solschenizyns nach seiner Ausbürgerung. Anders Als Marcel Reich-Ranicki, der einzigen vergleichbaren Figur in Deutschland, war Pivot nie Kritiker, schreiben die Kollegen von France Culture, aber "Bernard Pivot las aus Leidenschaft und beruflichen Gründen sehr viel, verschlang Bücher und Romane, um diejenigen auszuwählen, die eine Ehrung verdienten. Für den Prix Goncourt, dessen Präsident er fast fünfzehn Jahre lang bis 2019 war, aber auch für seine Vorzeigesendungen auf Antenne 2 und später auf France 2, in denen prominente Gäste defilierten."
Auch die neuen Philosophen Bernard-Henri Lévy und André Glucksmann hatten ihre ersten fulminanten Auftritte in "Apostrophes". Hier ein sehr malerischer BHL:
Personne, dans le monde littéraire, à qui je doive autant qu'à Bernard Pivot. Reposez en paix, homme-livre… pic.twitter.com/bPmptH2WPh
Pivot verkörperte allerdings auch den heute sehr weit weggerückten pädophilen Zeitgeist der Siebziger und Achtziger und lud nicht weniger als sechsmal den Autor Gabriel Matzneff ein, dessen Romane von seinen sexuellen Abenteuern mit 14- bis 17-jährigen Mädchen handeln. Matzneff ist durch verschiedene Erinnerungsbücher seiner Opfer heute komplett in Misskredit geraten. Hier ab Minute 1.29' die unglaublich mutige Intervention der kanadischen Autorin Denise Bombardier gegen Matzneffs Selbstgefälligkeit.
Moment très fort où dans Apostrophes de Bernard Pivot, la regrettée Denise Bombardier était la seule à renvoyer à sa condition de pédophile, l'affreux pervers Gabriel Matzneff. pic.twitter.com/pOY29fiVCB
In der FAZschreibt Niklas Bender einen Nachruf auf Pivot. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein an eine Entgleisung Thomas Manns. Rose-Maria Gropp berichtet in der FAZ von der Freiburger Popup-Buchmesse "freiBuch". Patrick Bahners gratuliert in der FAZ dem Comiczeichner PhilippeGeluck zum 70. Geburtstag.
Besprochen werden unter anderem OrhanPamuks "Erinnerung an ferne Berge" (FR), Han Kangs "Griechischstunden" (NZZ), Mareike Fallwickls "Und alle so still" (NZZ), MoussaAbadis Prosaband "Die Königin und der Kalligraph" (SZ) und AnnMarks' Biografie über die vor wenigen Jahren entdeckte Hobby-FotografinVivianMaier (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.