Efeu - Die Kulturrundschau
Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Mai 2020
30.05.2020. Die Feuilletons verlassen für einen Moment die Corona-Müdigkeit, um auf Lady Gagas schrillem Partyplaneten zu tanzen. Die taz kehrt mit Eribon, Stanisic, Bjerg und Witzel zu den eigenen Wurzeln zurück. Die Filmkritiker gratulieren dem zärtlichen Clint Eastwood zum Neunzigsten. Die FAZ lässt sich von den Wespen, Käfern und Fliegen der Niederländerin Juul Kraijer bedecken. Und die NZZ hebt ab mit den aufblasbaren Latexhosen von Harikrishnan.
29.05.2020. Die Filmkritiker trauern um die wunderbar trotzige, unerschrockene Schauspielerin Irm Hermann. ArtReview staunt über den kronenartigen Umfang der Bilder von Ida Applebroog aus den Sechzigern. Die deutschen Theater bitten Angela Merkel um Geld, damit sie nicht von den Kommunen kaputtgespart werden. In der taz erklärt Berliner Songwriter Hans Unstern, wie er mit seiner selbstgebauten Harfe aus Holz und Stahl und vierzig automatisierten Hubmagneten spielt.
28.05.2020. Die taz erforscht mit dem Künstler Erich Reusch den unendlichen Raum. Im Interview mit dem Van Magazin erklären Friedrike Hofmeister und Matthias Mohr vom Berliner Radialsystem, warum die ständige Antragsstellerei für Projektmittel total unkünstlerisch ist. Die Welt schildert Tolstois schmerzhafte Begegnung mit einem Bären.
27.05.2020. Der Standard fragt, wieso das Düsseldorfer Museum Kunstpalast acht Millionen Euro für ein Foto-Konvolut schnöder Abzüge ausgibt. Die FAZ streift im Hamburger Bucerius Forum durch die Welten britischer Postavantgardisten. In der Jungle World erkunden Tobias Premper und Martin Lechner den Übergang vom Gedanken zur Schrift. Und zum Tod von Renate Krößner beteuert die SZ, dass ihre roten Glitzerschuhe wirklicher waren als das Hinterhofgrau der DDR.
26.05.2020. Die FAZ opponiert gegen zwanghafte Stellenlektüre, die auch bei Goethe und Anne Frank Corona-Hinweise erblickt. Le Monde schreibt zum Tod des Autors Albert Memmi. Die NZZ beharrt trotz Corona auf der Verdichtung im Städtebau. Die taz observiert im ZKM mit Bruno Latour den Lifestatus des Strengbach. Boredpanda bewundert einen Magritte mit Sonnenschirm und Maske. ZeitOnline und Berliner Zeitung lernen von The 1975, auch der flüchtigsten Liebe ein Denkmal zu setzen.
25.05.2020. In der SZ verrät Dominik Graf, welche Tricks beim Filmemachen auch nicht über die Quarantäneregeln hinweghelfen. Der Freitag erkundet in Karl Lagerfelds Fotografien die symbolische Sinnlichkeit der Pose. Die taz lässt sich von Bernhard Martin mit Juwelen überhäufen. In der Abendzeitung fragt Barbara Mundel, in welche Polarisierung sich das Feuilleton immer wieder treiben lässt. Die FAZ besucht die wiedergeöffneten Museen in Italien . Der Guardian fordert eine Revitalisierung der Kleinstädte.
23.05.2020. Regisseur Christian Petzold entziffert in der Welt Georges Simenons kinematografische Schreibweisen anhand von Tonspuren für Sehbehinderte. Margaret Atwood erinnert sich in der FR an die Quarantänen im Kanada der Vierziger. Die New York Review of Books denkt über den Sinn von Lipgloss unter der Schutzmaske nach. In der SZ hofft Klaus Lemke, dass die Coronakrise dem deutschen Film einen dringend nötigen Neustart verpasst. Die FAZ hofft, dass eine Entscheidung des Denkmalamts die Frankfurter Bühnen vor dem Abriss rettet. Die Neuen Musikzeitung diskutiert über das Für und Wider des elektronischen Komponierens.
22.05.2020. In der FAZ blickt der Schriftsteller Marius Ivaškevičius traurig auf seine letzte gelöste Theaterkarte. In der SZ trauern Matthias Brandt und Christian Petzold um den schönen, kindlichen, versunken rauchenden Michel Piccoli. Die taz freut sich über Schutzschilde für Krankenhäuser aus dem 3D-Drucker der Kunsthochschule Weißensee. Das Van Magazin möchte Musiker lieber nicht als systemrelevant einstufen. In der New York Times zeigt Christoph Niemann, wie man die Tonleiter spielt: mit acht Fingern an einer Hand.
20.05.2020. Der Standard feiert die Transzendenz-Erlebnisse der Kurzfilmtage Oberhausen, die FR protestiert allerdings gegen eine sich abzeichnende Abwanderung ins Virtuelle. In der Berliner Zeitung kündigt Oliver Reese auch Pärchensitze fürs Berliner Ensemble an. Die Welt verehrt den Heiligen Sebastian, dessen Hingabe sich so elegant in Überlegenheit wandelte. Die SZ hebt noch einmal ihr Cocktailglas für den verstorbenen Filmkomponisten Peter Thomas.
19.05.2020. Michel Piccoli ist tot. Die Feuilletons trauern um einen Giganten des französischen Kinos, der Bürger und Aristokrat zugleich war, Stimme und Schweigen, aber immer ein großer Liebender. Geht mit ihm die Geschichte des europäischen Kinos zu Ende? Der Frankfurter Stadtplaner Roland Burgard erinnert in der FR daran, wie er den Architekten das Museumsufer abtrotzte. Die Welt feiert das Berliner Grau des Malers Hans Baluschek. In The Quietus erzählt der britisch-indische Musiker Paul Purgas vom Aufbruch der indischen Elektro-Musik in den sechziger Jahren.
18.05.2020. Die SZ feiert den italienischen Designer Enzo Mari, dessen legendäre Möbelserie Autoprogettazione auch als Modell Lampedusa hervorragend funktioniert. Licht, Luft und Sonne sind vielleicht für den Menschen gut sein, meint die Welt, aber nicht für Stadt und Umwelt. Im Standard lernt Alexander Kluge von den Biokosmisten die Wiederbelebung der Toten. In der Berliner Zeitung will Thomas Ostermeier sein Publikum zurück. Und die FAZ schmilzt unter dem Sopran des Venezolaners Samuel Mariño.
16.05.2020. Corona hilft Jair Bolsonaro, den "Genozid an den Indigenen" zu Ende zu bringen, schreibt die indigene Schauspielerin Kay Sara in ihrer von der taz dokumentierten Eröffnungsrede der Wiener Festwochen. Die SZ bewundert in Frankfurt karibischen Biedermeier von Frank Walter. Zeit Online lässt sich von Patrick Radden Keefe durch die irre Welt der Verschwörungstheorien führen. Im Tagesspiegel befreit die Zeichnerin Nina Bunjevac das Okkulte. Der Filmdienst blickt mit Ruben Östlund auf die Erschöpfung unserer Welt.
15.05.2020. Rolf Hochhuth ist tot. Die Kritiker können nicht anders, als den ewig kampfbereiten Dramatiker zu würdigen, der immerhin den Vatikan ins Wanken brachte. Der Standard preist die fluviale Poesie des ungarischen Dichters István Kemény. taz und Freitag treiben mit dem neuen Album der Einstürzenden Neubauten durch die Straßen West-Berlins. Und in der SZ ruft Albert Ostermaier: Macht die Theater wieder auf!
14.05.2020. Die New York Times erzählt, wie der Buddha zu seinem Gesicht kam. Der NDR schafft das Bücherjournal ab: Gilt der Auftrag zur Grundversorgung nicht mehr, fragt Florian Illies empört im Börsenblatt. Eine Bankrotterklärung der Öffentlich-Rechtlichen, schimpft die FAZ. Die NZZ möchte die Grenzzäune zwischen Kino, Festivals und Streaming einreißen. Im Van Magazin ärgert sich der Konzertveranstalter Burkhard Glashoff über das bequeme Sicherheitsdenken öffentlich finanzierter Theater und Konzerthäuser, die die Freien im Regen stehen lassen. Blixa Bargeld hat die Nase voll von der ewigen Berlinophilie, erklärt er in der SZ.
13.05.2020. Die Kurzfilmtage von Oberhausen finden online statt: In der FAZ spricht Festivalleiter Lars-Henrik Gass über die neue Logistik. In ersten Sichtungen erleben taz und FR prophetische Vorwegnahmen sozialer Distanzierung. Die FR lernt von Albrecht Dürer, dem Löwen die Zunge zu zeigen. Die SZ erinnert daran, dass sich in der Renaissance die TänzerInnen auch nur wie Himmelsgestirne umkreisten. Der DlfKultur untersucht das Verschwörungsgeschwurbel im Deutschrap.
12.05.2020. Die SZ lauscht mit Spike Lee dem leise pochenden Herzen des menschenleeren New York. Der Freitag hört lieber wachen Jazz in Chicago. In der FAZ warnt der Archäologe Andreas Schmidt-Colinet vor einer "westlichen" Rekonstruktion des Bel-Tempels in Palmyra. Hyperallergic lässt sich von den Pollen und Samen des abstrakten Expressionisten Norman Bluhm bespritzen. Und die Welt sieht in Christoph Ingenhovens Hainbuchen-Brutalismus in Düsseldorf das Licht vor lauter Bäumen nicht.
11.05.2020. Die NYRB lernt von der japanischen Kunst in der Edo-Zeit, dass sich gerade in der Isolation Kreativität entfaltet. Nach dem virtuellen Theatertreffen wünscht sich die Berliner Zeitung nicht unbedingt mehr Streaming, aber mehr digitales Theater. In der FAZ wirft die Schriftstellerin Alawiya Sobh einen deprimierten Blick aus ihrem Beiruter Fenster. Der Guardian freut sich für die Athener über das nunmehr garantierte Recht auf einen unverstellten Blick zur Akropolis. Und die Musikkritiker rufen Little Richard ein zärtliches Whooo nach.
09.05.2020. Im Pophistory-Blog analysiert Florian Völker das Image des kühlen Deutschen, das Kraftwerk so perfekt inszenierten. Die Berliner Zeitung schildert das große Rätselraten der Kinobetreiber, die versuchen, die Corona-Richtlinien zu verstehen. Bei 54books würdigt Christian Johannes Idskov den verstorbenen dänisch-palästinensische Dichter Yahya Hassan. In der Welt schreibt Madame Nielsen den Nachruf. In Berlin geht der Me Collectors Room des Sammlers Thomas Olbricht, dafür kommt ein Samurai Museum, meldet der Tagesspiegel.
08.05.2020. Wird es nach Corona noch den alten Konzert-Jetset geben, fragt das Van Magazin. Die NZZ sieht ein neues "Zeitalter der Dezenz" auf den Theaterbühnen heranrauschen. Damn Magazine blättert sich durch den catalogue raisonné der Wandzeichnungen von Sol LeWitt. Der Tagesspiegel fragt: Wann dürfen die Kinos wieder öffnen? Und er fordert er eine Neustrukturierung der Preußenstiftung. In der SZ erklärt der Fotograf Lois Hechenblaikner, wie die cleveren Bergbauern in österreichischen Apres-Ski-Orten die kalten, geizigen, neidischen, saufenden deutschen Touristen abmelken.
07.05.2020. Die Musikkritiker trauern um Florian Schneider, der in den Siebzigern den neuen, coolen deutschen Schlagersound von Kraftwerk erfand. Die taz stöbert mit Begeisterung in den Online-Archiven der Kinematheken. Artforum staunt, wie frisch die Kunst von Donald Judd immer noch wirkt. Die SZ lässt sich erklären, wie man in Corona-Zeiten wieder Theater spielen kann. Monopol kann das Stöhnen über Kunst im Netz nicht mehr hören.
06.05.2020. In der NZZ erklärt die Innenarchitektin Sevil Peach, warum das Büro Mittelpunkt der Kultur einer Organisation bleiben wird. Sehr interessant findet die SZ das digitale Theatertreffen, vermisst aber Publikum, Foyer und alles andere Analoge. Welt und FAZ diskutieren, wie viel Härte eine Ballettschule erfordert. An Stelle von Serien empfiehlt ZeitOnline Videospiele als die wahren Hotspots der Großerzählung. Und der Guardian fände den BP-Preis der National Portrait Gallery noch überzeugender, wenn er ohne BP auskommen würde.
05.05.2020. Die SZ blickt auf das Dokfilmfest München voraus, das zum Onlinefilmfestival umgemodelt wurde. Der Tagesspiegel fordert als erste bauliche Konsequenz nach Corona mehr Dachgärten. Statt die Debatte um kulturelle Aneignung lächerlich zu machen, sollte die deutsche Literaturkritik sie lieber führen, meint Johannes Franzen in der taz nach Lektüre von Jeanine Cummins' "American Dirt". Die FAZ steigt in die Diskussion um die Kabarettistin Lisa Eckhardt ein: Sie findet sie nicht witzig, aber böse. Und die Jungle World schwebt in den afrofuturistischen Klangwelten von Shabazz Palaces.
04.05.2020. Online diszipliniert, stellt die FR nach den ersten Aufführungen des digitalen Theatertreffens fest. Linke Schnulze oder alternative Geschichte? Netflix' neue Serie "Hollywood" stößt bei Berliner Zeitung und NZZ auf ein geteiltes Echo. Der Tagesspiegel erkundet mit Käthe Kruse die konkrete Poesie der Zeitungssprache. In der FAZ verliert Heinz Strunk einige Worte zum Stand der deutschen Comedy. Die taz erinnert daran, wie Thierry Mugler den Frauen breite Schultern und maschinelle Kraft gab.
02.05.2020. Die SZ verabschiedet nach Corona das Tier aus der Kunst. Die Welt reist mit den Farben Vermeers einmal um den Globus. Die Musikkritiker sitzen mit feuchten Augen vor dem Bildschirm und lauschen dem traditionellen Mai-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko. Niemand konnte so wunderbar verreißen wie Marcel Reich-Ranicki, erinnert sich die Literarische Welt in einem bislang unveröffentlichten Interview. Und die Film- und Kinobranche fordert eine Abgabe von den Streamingdiensten, meldet Artechock.